Sei frei. Sei so frei: Mach dich frei
Zum Ende seiner Ära - Claus Peymann inszenierte am Berliner Ensemble Kleists »Prinz Friedrich von Homburg«
Es gibt ein Wunderland. Klein liegt es zwischen großem Ja und großem Nein. Es heißt Vielleicht. Alles darin möglich, nichts entschieden. Dämmer zwischen Einsicht und Traumsicht. Die klare Wertung flieht aus diesem Land. Poesie lebt darin auf. Denn von wirklicher Dichtung darf man sagen, »dass da immer etwas überschießt, was durch keine Interpretation zu zähmen ist« (Adolf Dresen). Wahr, unwahr? Traum, Tatsächlichkeit? So lautet die Frage im Lande Vielleicht - und will keine Antwort wissen. Kleist-Land! Musterbeispiel dafür: »Der Prinz von Homburg«. Claus Peymann inszenierte das Stück am Berliner Ensemble. Seine letzte Arbeit, bevor im Sommer, nach fast zwanzig Jahren, eine Ära zu Ende geht. Kein Vielleicht mehr. Wunderland ist ausgebrannt.
Die Inszenierung bewegt sich auf einer hölzernen Schräge. Auf dem schwarzen Rundbogen der Hinterbühne eine weiße Horizontlinie. Wie eine EKG-Mitschrift. Oder doch Stadt- und Hügelsilhouette? Die Rätsel dieses Abends sind Schmuckwerk. Auch auf dem Boden Linien wie ein farbiger Blütenkreis, dann weiße Lichtflächen wie märkische Sanddünen, dann ein schmaler steiler Scheinwerferstrahl: Garten, Kriegsfeld, Gefängnis (Bühne: Achim Freyer).
Zunächst Verblüffung: Homburgs Balancieren auf dem goldglänzenden, hoch bis an die Decke des Zuschauerraums gespannten Seil. Ein Nachtwandler bei der Traumarbeit - die den preußischen Prinzen noch am nächsten Tag benebelt hält, bei der Befehlsausgabe gegen die Schweden. Aber alles geht gut in der Schlacht bei Fehrbellin. Und alles geht schief: Sieg zwar errungen - aber Order verletzt. Die Woge Anerkennung trägt ihn - bis vors Kriegsgericht. Standrechtlicher Tod. Disziplin hat Vorrecht vor Eingebung. Keine Gnade durch den Kurfürsten, zunächst.
Roman Kaminski, diese Grummel- und Gramgestalt, spielt den Kurfürsten als einen, der eher beobachtet als handelt - lauernd im Staunen, bärbeißig im Kalkulieren, da ist ganz die Gelassenheit des Gegerbten. Er hat aber plötzlich auch brodelnde Kraft, die aus der Verletzlichkeit kommt und gegen Schemel tritt. Er bleibt im Befehlston der Soldat, im Kurfürst fast der Kumpel, im harten Urteil der listig Lächelnde, der seine Wirkungen abschmeckt. Kaminski in seiner grantig trockenen Art gibt einen Fürsten, der freilich auch deshalb am Ende so gnädig ist gegen Homburg, weil er um den Wert des Eigensinns in einem kollektiven Gefüge weiß. Wer intelligente Militärs will - ist das ein Förderer oder der größte Feind des Friedens?
Homburg, das ist Sabin Tambrea, ein Schauspieler der ätherischen Entrücktheit. Sanft wach, wenn er träumt; nervend verträumt, wenn er wach ist. Aus trunkener Abwesenheit fährt er hoch in die unkontrollierten Bewegungen eines Gehetzten; immer neben der Spur, durchgängig ein Wesen außerhalb der Welt - allein schon sein sauber glattes, metallisch wirkendes schwarzes Haar offenbart den Willen, sich von keiner Wirklichkeit zerwirren zu lassen. Solchem Willen hält der Körper nicht stand. Dieser Prinz, mit tiefliegenden dunklen Augen, nervös und reizbar ins schweifend Innere gekehrt - er stürzt ins Jammern, er taumelt mit jäh schnappender Stimme, mit auftrumpfend selbstgewisser Obertonlage durch seine Verwirrung. Ein Albtraumtänzer. Eckig in seiner Arroganz, hilflos in seiner Kühle, rasend in seiner Unsicherheit.
Auch wenn der Abend - vor allem vor der Pause - mitunter in Lähmungsmomente gerät (die redliche Biederkeit der Regie!), so sind doch Zeichen sichtbar und lesbar. Wie Prinzessin Natalie sich nach einem leichten Kuss ihres Onkels, des Kurfürsten, die Stirn sauberwischt: So leicht wird es die Reinheit hier nie wieder geben. Wie der Fürst später behutsam den Kopf des Mädchens nimmt und sie noch in all seiner Onkelförmlichkeit weit inniger küsst, als es der überfallpanische Prinz versucht: Todesurteilskraft und Zartheit - nur ein Sekundenwechsel. Wie der Kurfürst nach dem Papier mit dem Todesurteil gegen Homburg verlangt und der Bedienstete im Schriftengewühl mühsam hektisch danach sucht: Bürokratie und Menschenleben - eine Unverträglichkeit.
Diese drei Stunden, das ist noch einmal der ganze, der große ehrenwerte Claus Peymann in seiner souveränsten Hilflosigkeit. Kein Deutungsfuror. Kein Überraschungsehrgeiz. Und das Geständnis, dass die Liebe zum Dichter eine größere Himmelsmacht ist als die Regie. Das gibt auch dieser Aufführung ein Timbre aus knorriger Naivität, bescheidenem Zauber und vorsichtigem Geist. Peymann erliegt diesem wahnbebenden Kleist nicht, vielleicht liegt der ihm nicht mal richtig (obwohl er einst mit seiner Bochumer »Hermannsschlacht« Theatergeschichte inszenierte!), aber: Was der Aufführung an Geheimnis fehlt, das gleicht eine geradlinige, peymanntypische Freundlichkeit aus. Der ja die Märchenfiguren stets näher sind als die Monster.
Märchenfiguren oder zumindest Gestalten, die sich aus gedankenhehrer Höhe herunterrechnen lassen aufs gewöhnliche Lebenslastige, also Begreifliche. Sichtbar wird’s an einer matronal agilen Swetlana Schönfeld als Kurfürstin, einem kraftvoll solidarischen und beschwörend klug einredenden Matthias Mosbach als Hohenzollern. Und einer Natalie, die ihr Herz gleichsam beherzt über höchste Hürden wirft - durch die Slalomstrecke aus Geliebt- und Verstoßensein, aus Opfernot und Vermittlertugend wankt, stampft, kämpft sie sich im plausiblen Wechsel von dragonerischer Festigkeit und fassungslosem Mädchengemüt.
Peymann offeriert eine Soldateska, deren schwarzgraue Kluft mit den breiten weißen Streifen an eine Mixtur aus Sträflingskleidung und Signalwesten für Straßenbau-Arbeiter denken lässt. Da ist es, das Klobigkeitszwinkern. Das Grobheitsmuster. Ein Abtötungsverfahren: Holzschnitz-Keime in einen Edelstoff zu setzen. Peymann macht das gern, er riskiert das Echo der Ablächler und macht weiter so. Und hat in Carmen-Maja Antoni eine grandiose Protagonistin. Sie spielt den treutapferen Obristen Kottwitz, der für Homburg eine Rebellion riskiert. Strohgelbe Scheitelperücke, schwarzer Chinesen-Schnurrbart, alle gedrungene Kraft hineingelegt in die Blickfalle des Ulks. Aber die Antoni - Peymanns »Mutter« und die »Courage« und in so vielen seiner Inszenierungen die Alters-Puck-Perle - erhebt ihre pummlig-paradeske Hosenrolle zum bewegenden Charakterbild.
Nein, ein kleistsches Gemüt hat Peymann nicht, er lässt die Dinge ungern dem Verstehen entgleiten - so ist sein Theater zwar der Platz, an dem er das Schreckliche zeigt, vor allem aber der Ort, wo man vor dem Schrecklichen immer geschützt bleibt. Ein Adel, ein sehr alter Theateradel ist das. Zu dem dann auch dies gehört: Im Schlussapplaus ein Direktor, der sich, abschiedswehgeschüttelt, die Hände vors Gesicht schlägt, vorm Ensemble auf die Knie fällt. Gefühlskonditorei: die Prinzenrolle vorwärts. Weinen und Gesichtswechsel: Lächeln. Die Tränen so ehrlich wie der Gaukel. Ein rührend stadelreifer Regietheaterselbstversuch.
Mit einem Traum Homburgs hatte alles begonnen. Am Schluss, nach viel kaltem, blauem, grauen, rotem Licht, erfährt der Prinz seine Begnadigung, er fällt bei Kleist vor Glück in Ohnmacht. »Ein Traum, was sonst.« Die Begnadigung oder der Tod? Tambreas Homburg schlafwandelt jetzt wieder, wie zu Beginn - seilt sich ab, nein auf, plötzlich hängt er da oben tot in den Stricken, aus dem Mund blutend. Und vorn an der Rampe starb Natalie. Kriegsdonner. Der Hofstaat tanzt sich in Zeitlupentrance hinaus. In die nächste Schlacht? Dazu Cat Stevens: »If you want to be free - be free.«
In der Schlusskurve wird Peymann aufreizend: Wie ein Gekreuzigter hängt Homburg da oben. Der Tod ein Traum - wie anfangs das Glück? Nein, der Tod als das einzig wahre Glück. Denn der ist, im Gegensatz zum Glück, das Erreichbare. »Be free«. Sei frei. Sei so frei. Mach dich frei - gegen diese Welt, in der Pflicht, Ehre, Gehorsam, Liebe nur Elendsvokabeln sind. Gegen diese Welt, die Erziehung durch die Androhung von Entleibung betreibt. Gegen diese Welt, in der man für manche große Sache nur etwas wert ist, wenn man sich für diese Sache vernichten lässt. Sterben als Selbstachtungsproduktion, das ist hart. Das ist aber Kleist, im Stück und vier Monate später am Wannsee. Wenn der Tod die Träume besetzt, als wäre er die Freiheit - dann spürst du, was von allem bleibt: das böse Erwachen.
Nächste Vorstellungen: 24., 26. und 28. Februar, 1. und 9. März
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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