Als Robert zum Eigenbrötler wurde
Betteln an der Kliniktür - Sachsens Kinder- und Jugendpsychiatrie hat zu wenig Fachärzte
Ohne Angst kann Herr M. nicht an seinen Sohn denken. Es ist keine Furcht vor dem 16-Jährigen, sondern um ihn. Denn Robert ist von dem Weg abgekommen, den sich Eltern für ihre Kinder wünschen. Er nimmt Drogen und zieht sich in seine eigene Welt zurück, die Schulleistungen sinken. »Er kapselt sich ab, wird immer mehr zum Eigenbrötler«, sagt der Vater. Dabei wäre es gerade jetzt vor den Prüfungen in der 10. Klasse so wichtig, den Anschluss nicht zu verlieren. Wenn Robert jetzt nicht die Weiche umlege, gerate er vielleicht endgültig aufs Abstellgleis, sorgt sich sein Vater.
Herr M. denkt an die Zeit zurück, als Robert sich veränderte. Damals lebte die Familie schon lange getrennt. Der Vater sah sein Kind nur alle 14 Tage. Womöglich sah er über manche Auffälligkeit hinweg, weil er den Jungen so selten bei sich hatte. »Eines Tages wurde bei Robert ADHS festgestellt«, erinnert er sich. Das Kürzel steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Manche halten das für eine Modediagnose. Oft kommt ein Zappelphilipp später von allein zur Ruhe. Manchmal sind Medikamente notwendig. Im Fall von Robert war das so. Er bekam schon als Kind Ritalin.
»Irgendwann wollte er keine Medikamente mehr nehmen und kam auf die Idee, dass Kiffen ein Ersatz sein könnte«, so der Vater. Als die Mutter Robert nicht mehr in den Griff bekam, sollte Herr M. es mit seiner Autorität richten, stieß aber auch bald an seine Grenzen. Der Teenager entwickelte einen Waschzwang. Dem Vater wurde klar, dass nur eine ärztliche Behandlung das Problem lösen könnte. Für den 1. Februar hatte er einen Termin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Arnsdorf bei Dresden. Doch kurz zuvor sagte die Klinik ab. »Man sprach von akutem Ärztemangel«, sagt der 47-Jährige. Seitdem warte man.
Robert ist kein Einzelfall. Nicht nur die Klinik in Arnsdorf weist Patienten ab und schickt sie in andere Einrichtungen. Aber auch dort sind die Terminbücher voll. Dem sächsischen Gesundheitsministerium ist das Problem seit langem bekannt, Lösungen hat es nicht. Die Versorgungslage bei der Kinder - und Jugendpsychiatrie (KJP) wird als »angespannt« beschrieben. In Kliniken drohten Versorgungsengpässe, weil offene Stellen mit Fachärzten nicht besetzt werden könnten. »Die psychiatrischen Fächer gehören zu den Fachgebieten mit dem höchsten Ärztemangel, der sowohl in den psychiatrischen Fachabteilungen wie auch im niedergelassenen Bereich spürbar ist«, heißt es.
Im Dezember hatten sich die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte aus dieser Fachrichtung in einem offenen Brief an das sächsische Gesundheitsministerium gewandt. Man sehe die Entwicklung »mit großer Sorgen und Beunruhigung«, schrieben die Experten. In den drei Kliniken in Arnsdorf, Rodewisch und Mittweida/Chemnitz gebe es nur noch ein eingeschränktes Versorgungsangebot. Eltern berichten von fatalen Folgen: Sie würden wie Bettelende von Klinik zu Klinik geschickt, bekämen Termine mit monatelangen Wartezeiten, hört man immer wieder.
In den Kliniken will man sich damit nicht abfinden. Die KJP müsse - wie in anderen Ländern - auch in Sachsen zur Chefsache erklärt werden, heißt es. »Nur wenn zusätzliche Stellen in den wenigen Kliniken mit genügend Bewerbern geschaffen werden, werden sich mehr Ärzte für eine Ausbildung in dem Fach entscheiden. Auch müssen ausreichend Zeitkontingente und Mittel zur Verfügung gestellt werden, die das Arbeiten in den Kliniken attraktiver machen«, sagt Veit Roessner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Dresdner Uniklinikum. Ein Beispiel seien Weiterbildungs- oder Forschungsverbünde, die die Ärzte an den verschiedenen Kliniken regelmäßig vernetzen und motivieren.
Sachsen steht mit dem Problem nicht allein. Das wird beim Blick auf den »Facharztindex« deutlich. Er gibt an, wie viele Fachärzte in Deutschland rein rechnerisch auf ein Stellenangebot entfallen. Psychiatrische Fachgebiete führen die Liste der besonders schlecht aufgestellten an. 2016 kamen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf eine ausgeschriebene Stelle 9,6 potenzielle Bewerber. Der Durchschnitt aller Fachgebiete liegt bei 31,3. Im Gegensatz zu einem leicht positiven Trend allgemein hat sich die Bewerbersituation in der KJP jüngst sogar noch weiter zugespitzt.
Die Gründe sind vielfältig. Im Vergleich mit Chirurgen oder Radiologen sind Jugendpsychiater viel schlechter bezahlt. Dabei müssen sie mehr als andere Ärzte »Gesellschaftswissenschaftler« sein, weil viele Erkrankungen soziale Hintergründe haben. Essstörungen etwa sind ohne den auch über Medien vermittelten Schlankheitswahn kaum denkbar. Der Beruf brauche dringend eine Aufwertung, betonen Fachleute. Auch im Studium, wo Kinder- und Jugendpsychiatrie kein Pflichtprüfungsfach ist.
Der Eindruck, dass immer mehr Kinder und Jugendliche als Folge des sozialen Wandels in die Psychiatrie müssen, lässt sich nach Angaben des Gesundheitsministeriums nicht belegen. Allerdings stellt man hier zwei Tendenzen fest: Die ärztliche und psychotherapeutische Kompetenz bei Diagnose und Behandlung hätten sich in den vergangenen Jahren deutlich weiterentwickelt. Zudem gebe es in der Öffentlichkeit eine höhere Wahrnehmung für entsprechende Erkrankungen. Psychische Leiden seien nicht mehr stigmatisiert. »Betroffene Menschen trauen sich, eher zum Arzt zu gehen und akzeptieren auch eher eine entsprechende Diagnose«, sagt eine Ministeriumssprecherin.
Herr M. wünscht sich nichts sehnlicher als Hilfe für seinen Sohn: »Ich möchte ihn dabei auch begleiten, genauso wie seine Mutter. Wir schieben ihn nicht ab.« Gerade jetzt sei die Lage akut. Unlängst habe er bei Robert wieder ein paar »Tütchen« gefunden. Doch der streite alles ab und tische immer fantasievollere Lügen auf. Wie zu Weihnachten, als er Geldgeschenke nicht für das ausgab, wofür sie gedacht waren - für Kleidung. Herr M. ist fest davon überzeugt, dass sein Sohn professionelle Hilfe braucht: »Nur bald muss sie kommen, sonst ist es vielleicht zu spät.« Es klingt nicht nur wie ein Hilferuf für Robert, sondern auch für sich selbst. dpa/nd
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