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Das NSU-Tribunal klagt an
Betroffene von rassistischer Gewalt wollen im Mai in Köln eine gesellschaftliche Anklage erheben
Eine Vielzahl von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) haben stattgefunden. Immer noch läuft vor dem Oberlandesgericht München das Strafverfahren gegen Beate Zschäpe und andere. Nun planen eine Reihe von bundesweit vernetzten Basisinitiativen ein Tribunal zu der komplexen Angelegenheit.
Die OrganisatorInnen des NSU-Tribunals machen sich die vielfältige Bedeutung des Begriffes »Klage« zunutze. Wenigstens drei Dimensionen rücken hier in den Blick: Erstens die Introspektion: »Wir klagen um die Opfer, die fehlen; und um diejenigen, die jahrelang bis heute so viel Leid und Demütigung ertragen mussten.« »Klage« auch im Geist einer Selbstbeobachtung meint hier nichts anderes als Verstehen, Empathie, Solidarität.
Zweitens der Angriff: »Wir klagen jene an«, sagt der Aufruf, »die sich hinter den Strukturen ihrer rassistischen Normalität verstecken, die Journalist_innen, die von düsteren Parallelwelten fabulieren, die Politiker_innen, die vor Gettos warnen und gleichzeitig die Menschen mit ihrer Stadtpolitik genau in solche hineinorganisieren, die Behördenmitarbeiter_ innen, die die Angehörigen und Opfer erpresst, eingeschüchtert und kriminalisiert haben, die Agent_innen in den geheimen Diensten, die das Morden der Nazi-Zellen bewirtschaftet haben und die Spuren dieser gemeinschaftlichen Taten heute akribisch verwischen.«
Die politisch Verantwortlichen in den Fokus nehmen
Unter dem Begriff des NSU-Komplexes gerät damit nichts anderes in den Fokus als die schwer durchdringbare Parallelwelt der deutschen Behörden, die seit Ende der 1990er Jahre den Rassismus und die Nazi-Mörder gefördert, unterstützt und flankiert haben. Für das Tribunal trifft es sich mehr als gut, dass just im Zeitraum seiner Durchführung, Ministerpräsident Volker Bouffier am 19. Mai vor den NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages geladen wird.
Neben dem langjährigen Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Klaus-Dieter Fritsche ist Bouffier heute der ranghöchste Politiker, der seine Karriere seinem spezifischen Engagement im NSU-Komplex zu verdanken hat, konkret: Er hat in seiner Amtszeit als Innenminister in Hessen die konkrete Rolle seines subalternen Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme während des Mordes an Halit Yozgat vertuscht und dafür auch die parlamentarischen Gremien belogen.
Dabei verdichtet sich gerade in der Figur Temme und besonders durch ihre Anwesenheit bei der Ermordung von Halit Yozgat in exemplarischer Weise der NSU-Komplex: Ja, so nachweisbar eng miteinander verschränkt waren die Nazi-Mörder und staatlichen Behördenvertreter immer wieder seit der Existenz des NSU, der ohnehin niemals aus lediglich drei Marionetten bestand, wie es die Generalbundesanwaltschaft der Öffentlichkeit mit ihrer staatsfrei komponierten Anklage vor dem OLG München weismachen will.
Ein gutes Leben einklagen
Dritte Klageperspektive: Man klagt eine solidarische Gesellschaft ein, in der die Leute durch den Rassismus nicht getrennt werden, sondern man klagt im heute geführten Kampf gegen den Rassismus schon jetzt ein gutes Leben ein.
Das Tribunal kann in seiner Intention an die Feststellungen von Amnesty International zur Situation in der Bundesrepublik im Jahresbericht 2016 anknüpfen, der herausarbeitet, wie der deutsche Staat auch am Beispiel des NSU die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt. Verpflichtend hier die Worte von Yvonne Boulgarides, der Witwe des vom NSU am 15. Juni 2005 in München ermordeten Theodorus Boulgarides: »Es wird sich nichts ändern, solange die Personen, die für die Ermittlungsfehler bei den ›NSU‹-Morden verantwortlich sind, nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wir müssen den institutionellen Rassismus innerhalb der deutschen Behörden und vor allem innerhalb der Polizei bekämpfen. Wichtig ist auch, das Bewusstsein zu schärfen, auch für die Verbrechen, die vom ›NSU‹ begangen wurden.«
Das Tribunal wird vom 17. bis 21. Mai in dem unweit der Keupstraße gelegenen Schauspielhaus Köln stattfinden. Das ist ein ganz ausgezeichneter Ort dafür, sich in dieser Zeit gegen die grauen Verhältnisse zu vergesellschaften und Kontakte zu den MigrantInnen in der Umgebung zu schließen, die nach dem Nagelbombenanschlag im Juni 2004 durch eine Vielzahl staatlicher Maßnahmen drangsaliert und herabgewürdigt worden sind.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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