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Kahle Wand mit Folgen

In Weiten, einem Dorf im österreichischen Waldviertel, tickt die Zeit durch die Kraft der Sonne

  • Hanne Walter
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist ein Virus. Ein höchst ansteckendes. Vor über vierzig Jahren hat es die Familie Jindra in Weiten, einem Dorf im österreichischen Waldviertel, erfasst und sich gnadenlos ausgebreitet. Im Dorf, im Tal, im Land und schließlich über die Grenzen hinweg, bis nach Südafrika: das neuzeitliche Sonnenuhrenfieber.

»Schuld« daran ist Mutter Jindra, die ihrem Mann, dem Schlossermeister Johann Jindra IV., eines Tages beschied: »Die Hauswand ist mir zu kahl und zu langweilig. Würde sich daran nicht eine Sonnenuhr gut machen?« Johann Senior nahm den Auftrag sehr ernst, suchte neben der Arbeit in seiner Metallwerkstatt in alten Schriften, fand das Buch von 1750 »Die Kunst, Sonnenuhren auf das Papier oder die Mauer zu zeichnen«. Er lernte, probierte, konstruierte, fing von vorne an und präsentierte schließlich nach sieben Jahren sein erstes funktionstüchtiges Werk, das präzise Schatten warf. Fortan prangte es unübersehbar für jeden Vorbeikommenden auf der großen, zur Straße zeigenden Giebelwand und weckte Begehrlichkeiten.

Die Kunst des Sonnenuhrenbaus war mit dem Ende des 19. Jahrhunderts aus der Mode gekommen, als mechanische Uhren immer zuverlässiger und genauer gingen und bald fast jeder Mann eine Taschenuhr an massiver Kette mit sich herumtrug. Dabei zeigt nur eine Sonnenuhr stets die wahre Uhrzeit für jede Zeitzone an. Maschinell hergestellte Armbanduhren erkennen weder Sonnenhöchststand noch Zeitzonen und können sie erst recht nicht ins Verhältnis setzen. Demzufolge kann es, je nach Jahreszeit, zu einer Abweichung von bis zu zwanzig Minuten kommen.

Aber auch die Sonnenuhr hat ihre Nachteile: Sie kennt keine künstlich eingerichtete Sommerzeit. So muss also von März bis Oktober in unseren Breiten immer eine Stunde dazugerechnet werden. Zudem geht sie nicht minutengenau und ist auf Sonnenschein angewiesen. Doch beides störte vor Hunderten von Jahren niemanden so recht. Wenn es dunkel wurde, war eben Schlafenszeit.

Natürlich gehören viel handwerkliches Geschick und ein Gespür für gutes Design dazu, eine schöne Sonnenuhr zu bauen, doch ohne grundlegende astronomische Kenntnisse wird sie niemals zuverlässig funktionieren. Deshalb spielt besonders der Aufstellungsort eine wichtige Rolle. Johann Jindra braucht für die Fertigung von jedem Kunden die genauen Koordinaten des künftigen Standorts und, sofern das Schmuckstück eine Hauswand zieren soll, deren exakten Neigungswinkel.

Allein die Angabe »Ich möchte eine Uhr für meine Südwand« reicht nicht aus. Jeder Abweichungswinkel ist wichtig, um die Sonnenuhr richtig zu berechnen und zu fertigen. Und so wird jede Uhr ein absolutes Unikat. Selbst das Standardprogramm an Standsonnenuhren wird an die Kundenwünsche angepasst. Die Möglichkeiten sind geradezu unerschöpflich. Ob der neue Entwurf des Meisters eher klassisch oder modern ausfällt, ist abhängig vom jeweiligen Stil des Gebäudes.

Wie vielfältig die Möglichkeiten sind, zeigt schon ein Gang durch den Sonnenuhrengarten der Familie Jindra. Etwa vierzig Exemplare sind dort zu sehen, umspült von einem Rinnsal. Das gehört zur Wasserstrahluhr, dank deren Glockenspiel alle Menschen Brüder werden, denn mit hellem Ton gibt sie die Ode an die Freude wider. Die blaue Kugel, die mit blauen Lichtstreifen die Zeit anzeigt, heißt Quadrant oder Sonnenwinkel. Sie gibt’s auch als kleine tragbare Taschenuhr zum Umhängen, ebenso wie den Bauernring, den Mönche im 18. Jahrhundert erfanden. Auf manchen der ausgestellten Uhren sind sogar Jahreszeiten, Monate und Geburtstage ablesbar. Ein wie zufällig in den Boden gerammter Wanderstab hat es besonders in sich. Nicht nur wegen seiner integrierten Sonnenuhr, sondern vor allem wegen der eingelassenen »Schnapserlflasche«.

Ähnlich sind sich alle Sonnenuhren darin, dass die Abstände in den Morgenstunden regelmäßig sind und mit dem Steigen der Sonne breiter werden. Für manche Gegenden ist schon bei 15 Uhr Schluss, weil danach sowieso kein Sonnenstrahl mehr die Uhr trifft.

Fertigteile sucht man in Jindras Werkstatt vergeblich. Alles wird ganz individuell für jedes entstehende Exemplar von Hand gefertigt, was auch die Preise erklärt, die sich zwischen 1080 und etwa 3500 Euro bewegen. »Wer Sonnenuhren kauft«, weiß Brigitte Jindra, »gehört nicht zu den Ärmsten. Aber immer sind es aufgeschlossene, nette Menschen. Ein Grantler war noch nie unter ihnen.« Es sind die unterschiedlichsten Kunden, vom Landwirt bis zum Professor, auch regelrechte Sammler, die mit einer dekorativen Sonnenuhr ihr Anwesen komplettieren. Dass auffallend viele Bauern unter den Käufern sind, verwundert die Familie nicht. »Ein Landwirt hat immer einen besonderen Bezug zur Sonne, denn von ihr ist seine Ernte abhängig. Darum gehörte früher grundsätzlich eine Sonnenuhr zu den Gehöften«, erzählt der 46-jährige Schlossermeister. Er ist schon der fünfte Johann in dem kleinen Familienbetrieb, den zwei Mitarbeiter vervollständigen.

Der 17-jährige Sohn Johann - der sechste - wird gerade ausgebildet. Gemeinsam fertigen sie jährlich neben den normalen Schlossereiarbeiten bis zu fünfzig Stand- und zehn Wandsonnenuhren. Das entfernteste Exemplar zeigt in Südafrika einem ausgewanderten Österreicher im Garten die Zeit an (dafür musste natürlich alles seitenverkehrt gefertigt werden, weil ja bekanntlich unterhalb des Äquators der Schatten in die andere Richtung wandert), die höchstgelegene erfreut die Besucher in Zermatt auf 3030 Meter Höhe an der Gandegghütte. In Weiten selbst steht sogar eine Sitzbanksonnenuhr.

Der Senior, der alles ins Rollen brachte, übernimmt noch oft die Führungen für neugierige und wissensdurstige Gäste durch den Garten und das Sonnenuhrenhaus. Dabei werden die seit eh und je waltenden Naturgesetze erfahrbar und die Unterschiede übers Jahr verständlich, ebenso die Geschichte der Zeiteinteilung und warum wann eine Sonnenuhr plötzlich nachgeht. Spätestens in der Dauerausstellung erkennt jeder: Das Thema Sonnenuhren ist so alt wie die Menschheit. Das beweisen Stonehenge und der Nonakado-Steinkreis genauso wie das Observatorium von Samarkand.

Ein Glück, dass der Mutter einst die Wand zu kahl war und seitdem dieses uralte Wissen aufgefrischt und weitergegeben wird.

Infos

Schlosserei Johann Jindra:

www.sonnenuhren.com

Tel.: (0043) 278 82 92

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