Beim Starren auf den Phoenix
Das Umfragenhoch des Martin Schulz geht auch auf Kosten der Linkspartei - und stellt sie vor taktische Probleme
Normalerweise ist die sozialdemokratische Linke skeptisch, wenn ihre Parteispitze in Wahlkampfzeiten soziale Rhetorik wiederentdeckt. Diesmal scheint die Sache anders. Es sei »entschieden«, frohlockt die SPD-Strömung DL21, »dass soziale Gerechtigkeit unser inhaltlicher Schwerpunkt für die Bundestagswahl ist«.
Mit Martin Schulz scheint ein Kandidat gefunden, der als »Wunder aus Würselen« die Erzählung des Wiederaufstiegs der SPD medienkompatibel verkörpert. Agenda-Selbstkritik und gute Umfragezahlen, das kommt auch dort an, wo politikwissenschaftliche Kommentare nicht so eine große Rolle spielen. Der Aufschwung begründet sich gewissermaßen auch selbst. Nach dem Motto: »Es wird ja jetzt wieder SPD gewählt.«
Nun ist in Wahrheit noch gar nicht abgestimmt worden. Aber in Umfragen hat die SPD seit Ende Januar im Schnitt zehn Prozentpunkte zugelegt. Demoskopen glauben, dass dies nicht zuletzt mit der Mobilisierung von Nichtwählern erklärt werden kann. Der von den SPD-Anhängern so genannte »Schulzzug« scheint Menschen zu aktivieren, die sonst nicht abgestimmt hätten. Anfang Januar lag der Nichtwähleranteil bei Forsa noch bei 30 Prozent, inzwischen sind es 24 Prozent. Das hat Auswirkungen auf die anderen Parteien. Die Rechtsaußen von der AfD zum Beispiel haben Anteile eingebüßt, Union und Grüne ebenfalls.
Gleiches gilt für die Linkspartei. Dort schaut man besonders auf den sozialdemokratischen Phoenix. Denn die Umfrageerfolge der SPD berühren die Linkspartei in ihrem Kern. Es geht um ihr Selbstverständnis als Anti-Agenda-Partei und die Frage, wer auf der politischen Linken am glaubhaftesten für Gerechtigkeit steht.
Die Reaktionen auf sozialdemokratische Korrekturankündigungen in der Linkspartei fielen entsprechend aus. Fraktionschef Dietmar Bartsch sprach von »Schrittchen« in die richtige Richtung, eine Korrektur sei das aber »nun wirklich nicht«. Eine solche werde es »nur mit der LINKEN in Verantwortung« geben. Im Vorstand heißt es mit Blick auf die eigene Partei, diese sei »die entscheidende Kraft für soziale Gerechtigkeit«.
Politisch umgesetzt wird dieser Leitsatz derzeit in taktischen Nadelstichen: Man fordert die SPD auf, die aktuell im Bundestag bestehende rot-rot-grüne Mehrheit schon jetzt zu nutzen. Dem steht freilich der Koalitionsvertrag mit der Union entgegen, was eher zu dem Gedanken verleitet, einmal über die in solchen Abmachungen kodifizierte Fesselung der Regierungspolitik und vor allem der Stimmfreiheit von Abgeordneten zu diskutieren.
Aus den bisher vorliegenden Daten jedenfalls lässt sich nicht entnehmen, dass die Skepsis der Linkspartei über die Ankündigungen der SPD sich auch bei den Wählern wiederfindet. In Umfragen sagen jetzt 46 Prozent, die Sozialdemokraten würden »für soziale Gerechtigkeit sorgen« - im September 2016 waren es nur 33 Prozent. Mit dem Zuwachs der Kompetenzwerte der Sozialdemokraten einher geht der Rückgang bei der Linkspartei von 14 auf 10 Prozent. In ähnlichem Ausmaß sind die Grünen betroffen.
Interessant ist, dass heute auch mehr Menschen als im vergangenen Herbst glauben, die Union könne »für soziale Gerechtigkeit sorgen«. Eine Erklärung: Das Thema Gerechtigkeit wird generell und parteiübergreifend wieder als wichtiger erachtet. Der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Matthias Höhn, sieht denn auch einen positiven Effekt der Schulz-Nominierung darin, dass so die Dominanz der »Themen Flucht, Zuwanderung, Integration, Terror und innere Sicherheit« gebrochen wird. Auf dem Feld sozialer Gerechtigkeit gehe es nun darum, »das beste politische Angebot« zu haben. Höhn ist »optimistisch«, dass seine Partei dabei »punkten« kann.
Nur: Wie? Ende Februar stand das Thema im Vorstand der Linkspartei zur Debatte. Teilnehmer erinnern sich an eine recht kontroverse Beratung, in der die Frage, was der SPD-Wahlkampf für rot-rot-grüne Erwartungen bedeute, ebenso eine Rolle spielte wie die Leerstellen in Schulz’ Agenda-Selbstkritik - etwa mit Blick auf die so genannten Prekären. Nicht nur Parteichefin Katja Kipping drängt auf die »Abschaffung der Sperrzeiten und der Hartz-IV-Sanktionen«. Das aber, so die neusten Meldungen, ist mit Schulz gerade nicht zu machen.
Ein Alleinstellungsmerkmal für den LINKE-Wahlkampf? Interne Zahlen der Bundestagsfraktion deuten an, dass »nach Schulz« der Zuspruch für die Partei in Haushalten mit Einkommen unter 1500 Euro netto zurückgegangen ist. Im jüngsten Deutschlandtrend von Infratest sagen zwar 57 Prozent der Parteianhänger, es sei »eher ungerecht«, wie sich »der Staat um die Hartz IV-Empfänger kümmert«. 49 Prozent fällen dasselbe Urteil mit Blick darauf, »wie man in unserem Land abgesichert ist, wenn man arbeitslos wird«. Noch größer aber ist der Unmut darüber, »welchen Lohn man für seine Arbeit bekommt« - dies finden 78 Prozent der potenziellen LINKE-Wähler »ungerecht«. Was den reformlinken Flügel jüngst zu der taktischen Mahnung veranlasste, jetzt bloß nicht »den Fokus ausschließlich auf Erwerbslose zu richten«.
Sich am »Glaubwürdigkeitsproblem« der SPD abzuarbeiten, ist das eine. Zur Kenntnis zu nehmen, dass eine schwache SPD »nicht automatisch« der Linkspartei hilft, wie es Höhn formuliert, das andere. Gleiches gilt für die nach eigener Auskunft zahlreichen sozialpolitischen Umbaukonzepte der Linkspartei, die freilich allein noch lange kein Garant für wachsenden Zuspruch in einem »Gerechtigkeitswahlkampf« sind.
Nicht zuletzt stellen sich immer drängender sozialethische Fragen, welche die Beziehung von innergesellschaftlicher Ungleichheit zu den weltgesellschaftlichen Ungleichheiten betreffen - eine Perspektive, die nach den Worten des Soziologen Stephan Lessenich in den hierzulande um soziale Gerechtigkeit kreisenden Debatten »unterbelichtet« ist.
Und so sucht die Linkspartei weiter eine Antwort auf den Schulz-Effekt. Ein Kommentar in der Zeitschrift »Sozialismus« attestierte ihr dieser Tage »Schwächen«, sich auf Veränderungen »im gesellschaftlichen Klima einzustellen«. Von einem gut laufenden »Motor für soziale Gerechtigkeit« könne »mindestens im politischen Alltag« derzeit nicht die Rede sein.
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