Europas Einheit
Notizen von der Leipziger Buchmesse
Denk ich an Europa in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Der sehnsuchtsvolle Schmerz des exilierten Dichters Heinrich Heine, den er in seinen »Nachtgedanken« auf Deutschland münzte, lässt sich auf die Europäische Union anwenden. 60 wird sie an diesem Wochenende, hat noch nicht einmal das Rentenalter erreicht und wirkt doch gebrechlich und zerbrechlich. Die EU ist auch ein großes Thema auf der Buchmesse: Euro-Krise, Brexit, die Brüsseler Bürokratie, politische Ohnmacht, Wirtschafts- und Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd, Ost und West sowie vor allem die Abschottung vor Kriegs- und Armutsflüchtlingen.
Bereits zum Auftakt der Messe erinnerte der französische Autor Mathias Énard, der für sein Werk »Kompass« den diesjährigen Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erhielt: »Europa ist eine illegale Einwanderin, eine Ausländerin, eine Kriegsbeute. Ihre Geschichte ist eine Mittelmeergeschichte, eine Geschichte von Begehren und Eroberung.« Denn: Europa war eine libanesische Prinzessin, die an einem Strand bei Sidon von einem Gott des Nordens, von Zeus, entführt worden ist. In seinem preisgekrönten Buch zeigt der studierte Arabist, der im Nahen und Mittleren Osten ebenso beheimatet ist wie in seinem Geburtsland, die Wurzeln des Okzidents im Orient auf.
Rund um die Uhr debattieren Wissenschaftler, Künstler, Politiker im Café Europa in Halle 4. Die Schauspielerin Katja Riemann bekannte: »Zuerst bin ich Europäerin, dann Deutsche.« Die Migrationsforscherin Naika Foroutan, die mit ihrer Widerlegung der Thesen Sarrazins deutschlandweit bekannt wurde, konstatiert: »Demokratie ist nicht nur ein Verfahren, sondern ein großes Versprechen: Freiheit und Gleichheit für alle, wie es Kant in seiner Schrift vom ›Ewigen Frieden‹ formulierte.« Und sie ermuntert: »Plurale Demokratie ist anstrengend, aber die Anstrengung lohnt sich.« Der gebürtige Rheinländer Mark Terkessidis, der zu Jugend- und Popkultur forscht, kann sich nicht erinnern, während seiner 50 Lenze auf Erden eine Zeit ohne Krisen erlebt zu haben. Und immer habe es eine nostalgische Beschwörung einer angeblich besseren Vergangenheit gegeben. Für ihn ist es wichtig, auf welchen Kanon des Wissens das vereinte Europa sich verständigt, um es als Erbe folgenden Generationen weiterzugeben.
Alle großen Verlage, aber auch einige kleinere, haben es sich nicht nehmen lassen, dem Jubilar, dem nicht zum Jubilieren zumute ist, Bücher auf den Geburtstagstisch zu legen. So erschien aus der Feder von Luuk van Middelaar, Professor für EU-Recht an der Universität Leiden und von 2009 bis 2014 Berater des damaligen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, ein historischer Abriss »Vom Kontinent zur Union« (Suhrkamp). Er mahnt: »Für Europa bedeutet der britische Austritt eine Amputation, aber nicht den Todesstoß - vorausgesetzt, die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker bekommen die entfesselten Kräfte wieder unter Kontrolle.« Sein niederländischer Landsmann Pieter Steinz verfasste einen Kulturführer: »Typisch Europa« (Knaus). Der Historiker und Literaturwissenschaftler fasst Europa weiter als die Bürokratie von Brüssel bis Berlin: »Wenn ich an Europa denke, sehe ich eine gemeinsame Kultur, die von Dublin bis Lesbos und von Sankt Petersburg bis Lissabon reicht.«
Und ebendiese gemeinsamen Bande werden nirgends deutlicher als auf einer Literaturmesse: Sokrates, Spinoza und Shakespeare, Casanova und Dante, Charles Dickens, Dostojewski und Jane Austen, Pippi Langstrumpf und Puschkin, Monty Python, Karl Marx und Karl May - alle sind sie hier friedlich vereint.
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