Mason: Neuer EU-Vertrag für ein linkes »Kerneuropa«
New Deal für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit: Britischer Autor fordert Debatte über linke Alternativen zur real existierenden Europäische Union
Berlin. Er hat sich mit dem Buch »Postkapitalismus« einen Namen gemacht, nun will der britische Autor Paul Mason eine linke Debatte über die Zukunft der EU anstoßen. Das »Weißbuch« von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, in dem fünf Szenarien für die Zukunft der EU skizziert sind, sei »eine unzureichende Antwort« auf die Krise, schrieb Mason im Portal »Social Europe« bereits Anfang des Monats. (Hier gibt es die deutsche Übersetzung.) Unter dem Titel »Neustart« sind darin zehn Vorschläge aufgelistet, »wie wir Europa von Grund auf gerechter und demokratischer machen können« – passend zu den »Feierlichkeiten« anlässlich des 60. Jahrestags der Römischen Verträge.
Zu verstehen sei sein Entwurf als Angebot an »Parteien und Bewegungen, die sich dem Internationalismus und der sozialen Gerechtigkeit verschrieben haben«, erklärt Mason den Aufschlag. Was die Krisenanalyse angeht, verweist er auf die seit langem diskutierten Entwicklungen: »existenzielle Legitimationskrise des neoliberalen Wirtschaftsmodells«, soziale Ungleichheit, Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unter anderem in Osteuropa, weit verbreiteter Rassismus, fehlende internationale Solidarität und so fort.
Im Unterschied zu vielen sonst eher vage bleibenden Empfehlungen für eine europäische Wende wird Mason aber auch recht konkret. Laut den »zehn Vorschlägen« soll die EU-Kommission bis September 2017 den Entwurf für einen neuen Vertrag über die Europäische Union vorlegen - als »New Deal für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit«. Ein Jahr später soll dann ein Dokument unterzeichnet werden, das im Kern dazu verpflichtet, »alle sozialen Rechte und Lebensstandards« nach oben anzugleichen, etwa durch Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns.
»Hohes Maß an gebündelter Souveränität«
Binnen fünf Jahren sollen zudem von den Unterzeichnerstaaten »ein einheitliches Arbeitsrecht, Partnerschaftsabkommen mit Gewerkschaften sowie Mindeststandards für die soziale Sicherung« verabschiedet werden. Darunter stellt sich Mason zum Beispiel eine »Europäisierung« der in Schweden existierenden staatlich subventionierten Kinderbetreuung ab dem Alter von 18 Monaten vor. »Die zügige Harmonisierung von Mindestlohn und sozialer Sicherung zielt darauf ab, rasch wieder Einigkeit über die Arbeitnehmerfreizügigkeit herzustellen«, schreibt Mason weiter. Der neue Vertrag solle überdies »eine einheitliche und faire Behandlung von Flüchtlingen sicherstellen und ein neues System der Wirtschaftsmigration nach Europa etablieren«. Zudem sehen die »zehn Vorschläge« klare Regeln gegen Konzernlobbyismus vor.
Entscheidend ist Masons Vorschlag, »das Europäische Parlament als souveränes Organ der EU« einzusetzen, »die Kommission vollständig seinen Entscheidungen« zu unterwerfen und der Kommission das Recht abzuerkennen, »Gesetze einzubringen, und dieses Recht ausschließlich anerkannten Gruppen innerhalb des Europäischen Parlaments« zuzugestehen. Ein derart »hohes Maß an gebündelter Souveränität« sei aber nötig, um die vor der EU »liegende schwierige Zeit zu überstehen«.
Mit dem neuen EU-Vertrag soll der Kommission zudem die Befugnis erteilt werden, »sowohl über die EU-Organe als auch über die Nationalstaaten ein umverteilendes Steuersystem einzuführen und in allen Unterzeichnerstaaten zu harmonisieren sowie mit geeigneten Maßnahmen den Abfluss von Unternehmenssteuern in ausländische Steueroasen zu verhindern«. Steuerflucht zu begehen oder zu begünstigen, »wäre in der gesamten Union unmittelbar nach Unterzeichnung des Vertrags eine Straftat«.
Stabilitätspakt soll fallen
Was den Euro angeht, sieht Masons Diskussionsvorschlag vor, dass alle Mitglieder der gemeinsamen Währung deren Bedingungen »frei neu verhandeln«. Die Unterzeichnerstaaten des neuen EU-Vertrags sollen »eine strategische Schuldenrestrukturierung anstreben und die Europäische Zentralbank unmittelbar der Kontrolle eines Ausschusses souveräner Staaten unterstellen« - um so »die Entpolitisierung der Geldpolitik« zu beenden, die in Wahrheit zu einer Waffe starker gegen schwache Staaten geworden ist. Der aktuelle Stabilitäts- und Wachstumspakt würde den Vorstellungen zufolge suspendiert und »durch ein radikales Programm für fiskalische und monetäre Expansion, staatliche Intervention und Innovation« ersetzt.
Mason hofft, mit einem auf derartige Prinzipien festgelegten neuen EU-Vertrag könne eine Harmonisierung des Mindesteinkommens, der Sozialhilfesysteme sowie eine Angleichung der Arbeitsmarktregelungen erreicht werden. »Die Mitgliedstaaten würden sich damit zu dem Projekt einer harmonisierten sozialen Marktwirtschaft mit Freizügigkeit und Offenheit für Migration von außen bekennen.«
Bleibt die Frage: Ist so ein Plan überhaupt realistisch? Mason weiß, »dass einige Staaten nicht in der Lage oder willens wären, die Zustimmung ihres Parlaments für den neuen Vertrag zu erhalten«. Deshalb schlägt er einen Übergangsmechanismus vor, mit dem »diese Länder Mitglieder einer erweiterten Europäischen Freihandelsassoziation und eines erweiterten Europäischen Wirtschaftsraums blieben«. Die »neu gestartete« EU würde also eine kleinere Union sein, was auf eine linke Variante eines »Kerneuropa« hinauslaufen würde, dessen »Vorreiter« sich um die Werte »Soziale Gerechtigkeit und Demokratie« sammeln und, so Mason. Diese neue EU würde zunächst ziemlich sicher »nicht aus allen 27 Staaten bestehen«.
Doch eine Alternative dazu sieht der Autor nicht. Weil »das wirtschaftliche Wohl, die soziale Harmonie und die politische Demokratie massiv unter Druck stehen, müssen die Bewegungen für Arbeit und soziale Gerechtigkeit in der Europäischen Union diese umfassende Neugründung einfordern.« Die »zehn Vorschläge« Masons sind dabei nicht in Stein gemeißelt, sie sollen vor allem als Ausgangspunkt für die Debatte dienen: »Wer sie gern weiter entwickeln möchte«, so Mason, »möge sich bei mir melden.« tos
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