Warten auf die »neue Welle«

In Alexandria proben junge Kunstschaffende für die Zukunft eines anderen Ägyptens

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine alte Frau sitzt auf dem Boden des Tahrirplatzes in Alexandria und bietet Papiertaschentücher zum Verkauf an. Schwer drückt ihr Leib auf die Steinplatten. Die Passanten, die den hupenden Minibussen an der Uferpromenade zustreben, machen einen Bogen um sie. Das Anbieten der Taschentücher ist mehr Betteln als Verkaufen.

Nichts erinnert an diesem Hauptplatz der Stadt mehr an die Demonstrationen vom Frühjahr 2011. Alltag hat Einzug gehalten in der ägyptischen Hafenstadt am Mittelmeer. Die Straßenbahn quietscht auf den Gleisen. Minibusse stoppen abrupt, um Passagiere aufzunehmen. Alexandria ist geschäftig. Die Wirtschaftskrise und die damit verbundene Geldentwertung sind hier weniger stark zu spüren als im Rest des Landes. »Über den Hafen laufen 50 Prozent des ägyptischen Außenhandels. Wir haben die petrolchemische Fabrik und eine diversifizierte Industrie. Wer Arbeit finden will, findet auch welche«, meint Shihab, ein Bänker, der für Industriekunden zuständig ist.

Freilich ist die Arbeit nicht immer gut bezahlt. Im Mai letzten Jahres streikten Werftarbeiter. Sie forderten die Zahlung des Mindestlohns und die Übernahme der Krankenversicherung durch den Arbeitgeber. Der wiederum ist das Militär. Etwa die Hälfte der industriellen Infrastruktur des Landes gehört der Armee. Und dieser ganz besondere Eigner griff auf seine Art durch. Mehr als zwei Dutzend der Streikenden wurden verhaftet. Nach den neuen Sicherheitsgesetzen der Militärregierung unter Präsident Abd al-Fattah as-Sisi läuft gegen sie ein Prozess vor dem Militärtribunal. Ihnen drohen längere Haftstrafen.

Dieses harsche Vorgehen - Militärgericht gegen Streikende - war weder beim Besuch Angela Merkels bei Präsident al-Sisi noch bei dessen Audienz bei Donald Trump ein Thema. Westlichen Politikern ist die Stabilität, die in ihren Augen das Militär in Ägypten garantiert, wichtiger als die Einhaltung demokratischer Grundrechte.

Bei denen, die 2011 und 2012 noch für eben diese Grundrechte auf die Straße gingen, hat sich eine Mischung aus Ernüchterung und Trotz breitgemacht. Ein Grund für die Frustration ist schon bei einem flüchtigen Blick auf die Corniche zu finden. Ein knappes Dutzend hässlicher Hochhausklötze ragt aus der neoklassizistischen Bebauung heraus. Obwohl abgewohnt, sind sie keine fünf Jahre alt. Sie entstanden zum großen Teil nach der Revolution. Bauunternehmer nutzten das Verwaltungschaos nach 2011 und rissen die historischen Häuser ab. »Sie zerstören das alte Alexandria«, klagt Abdalla Daif, Theatermacher und Mitbegründer des Künstlernetzwerks Gudran Association. Immerhin gibt es Protest dagegen, gebündelt durch die Initiative Savealex. Der neue Bürgersinn ist ein Ergebnis der Revolution. Alexandrias Einwohner, zumindest die der Mittelschicht, haben den Wert ihrer Stadt erkannt, und verteidigen ihn gegen den Vulgärkapitalismus, der durch die Revolution freigesetzt wurde.

Eine andere Nachwirkung der Revolution lässt sich bei der lebhaften alternativen Theater- und Performanceszene beobachten. Mehrere feste Gruppen gibt es, die älteste, Alternative Theatre Group, sogar seit 1989. Die meisten anderen sind mit der Revolution entstanden, wie etwa die Gruppe Viceversa. »Unsere erste Produktion hatte die Revolution zum Thema und fand auf dem Tahrirplatz statt«, erzählt Regisseur Tarek Nader. Wieder andere finden sich gerade jetzt zusammen, wie die Alexandria Theatre School um John el-Sabbagh. Sie entwickelt ein Stück über die Insassen eines Irrenhauses. »Die Protagonisten leiden an verschiedenen Zwangsstörungen. Wir entwickeln gerade das Skript«, erzählt el-Sabbagh. Man beginnt sich vorzustellen, welche Analogien das Publikum zwischen dem theatralen Irrenhaus und der aktuellen ägyptischen Gesellschaft herzustellen vermag.

El-Sabbagh und Nader arbeiteten im März und April für das Backstreet Festival, ein internationales Straßentheaterfestival in Alexandria. Bei den Aufführungen fiel auf, dass Frauen und Mädchen die Mehrheit des Publikums stellten. »Vor zehn, fünfzehn Jahren waren maximal zehn Prozent des Publikums Frauen. Wir wollten diese Situation ändern und haben gezielt mit einem Theaterprogramm an Schulen angefangen. Die Saat ist aufgegangen, denn ich sehe jetzt junge Leute im Theater, die ich gar nicht mehr kenne«, erzählt Mahmoud Abodouma, Nestor von Alexandrias freier Szene und Leiter des Festivals.

Viele Zuschauer nehmen auch an Theaterworkshops teil - für Abodouma ein wichtiges Instrument, um den Körper zu befreien. »Wir müssen erst die Werkzeuge für die freie Kommunikation schaffen. Erst dann kann es wirklich um die Freiheit der Rede gehen«, erklärt er. Körper seien in der islamischen Kultur »haram«, tabu. Deshalb seien die Theaterworkshops so wichtig, um ein Verhältnis zum eigenen Körper, aber auch zu den Körpern der anderen aufzubauen, sagt Abodouma. Bei einer Koproduktion seiner Alternative Theatre Group mit der Berliner Truppe Grotest Maru sprangen die Performer an Seilen befestigt aus Hausfenstern und nutzten die Fassade als vertikale Bühne. Im Rahmen des Festivals war das der Beginn eines ganz neuen Umgangs mit von der Schwerkraft befreiten Körpern.

Alternatives Theater und Performancekunst bieten neue Ausdrucksformen für Alexandrias Jugend. »Die Themen, die sie angehen, werden hier verhandelt, nicht in den staatlichen Theatern«, meint Abodouma stolz. Sein Mitarbeiter Tarek Nader entwickelte mehrere Projekte zur Geschlechterungerechtigkeit in Ägypten. »Es kommen viele junge Frauen in unsere Vorstellungen. Sie sehen ihre eigenen Probleme dargestellt und reagieren sehr emotional. Bei den Männern, auch denen aus den eher kultivierten Kreisen, nehme ich hingegen oft Furcht in den Augen wahr, wenn sie die Frauen so offen über ihre Probleme sprechen hören«, sagt Nader.

Abdalla Daif arbeitete im letzten Jahr in der Performance »The Store« die Erfahrungen afrikanischer Migranten auf dem Weg bis zur Mittelmeerküste auf. »In den Medien kommt meist nur die Überfahrt übers Meer vor, der Weg davor wird ausgeblendet«, erzählt er. In »Store« wurde das Publikum von Sammelpunkten aus in eine umgebaute Garage gefahren, in der eine Schleusergang auf sie wartete.

Wie Daif seine Arbeit beschreibt, könnte sie auch Teil des Programms des Berliner HAU oder der Münchner Kammerspiele sein. Themen und Ästhetiken der Theatermacher nördlich und südlich des Mittelmeeres sind verwandt. Nur bei der Förderung hören die Ähnlichkeiten auf. Die ägyptischen Theatermacher finanzieren ihre Produktionen oft selbst. Gelegentlich helfen Gelder der ausländischen Kulturinstitutionen. Vom ägyptischen Staat hingegen kommt so gut wie nichts. »In den Augen des Kulturministeriums sind wir Gegner«, stellt Abodouma fest. Nur ein goldenes Jahr der Kulturförderung gab es. »Das war 1997, unmittelbar nach den Terroranschlägen in Luxor. Der Tourismus lag am Boden. Da unterstützte das Kulturministerium uns, weil die Funktionäre dachten, dass wir die Gesellschaft vor den Ideologien der Wahhabiten und den Terroristen schützen. Als die Terroristen gefasst waren, wurde die Förderung für uns eingestellt«, sagt der Regisseur und Stückeschreiber. Gegenwärtig ist das Verhältnis wieder mehr durch Gegnerschaft bestimmt. Die nach 2013 erlassenen Sicherheitsgesetze des Militärs erschweren Aktionen im öffentlichen Raum. Für die aktuelle Ausgabe des Backstreet Festivals, das eigentlich ein Straßentheaterfestival ist, wich man auf internationale Schulen als Spielstätten aus. »Das ist offener, aber auch geschützter Raum. Und für Genehmigungen sind nur die Schulleiter verantwortlich«, begründet Abodouma.

Das ist, gemessen an den Theaterperformances 2011 mitten in der revolutionär erregten Stadt, ein Rückschritt. Es ist zugleich eine Behauptung von Kultur in schwierigen Zeiten. Das einmal erlebte Gefühl von Freiheit lasse sich ohnehin niemand mehr nehmen, ist das Gros der freien Theaterkünstler überzeugt. Sie eint die Erwartung, dass die »große Welle«, die neue Revolution, noch kommen wird. »Wir wissen nicht, wo sie beginnt, ob in Alexandria, in Kairo oder in Oberägypten. Aber die Leute spüren, dass sie kommen wird«, sagt Mahmoud Abodouma.

Der Autor war für zehn Tage im März und April im Rahmen einer Koproduktion zwischen Grotest Maru (Berlin) und der Alternative Theatre Group (Alexandria) in Ägypten. Die Zusammenarbeit setzt sich im Juni mit Auftritten und Workshops in Berlin und Eberswalde fort.

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