Wagenknecht kritisiert EU und Bundesregierung für Brexit-Kurs
Mit Abschreckung und Einschüchterung sei Zusammenhalt in Europa nicht zu erhalten / Europaminister legen Leitlinien für Verhandlungen mit London fest
Berlin. Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht hat die Europäische Union und die Bundesregierung für den Kurs bei den Brexit-Verhandlungen kritisiert. »Die EU-Kommission geht den Weg möglichst abschreckende Konditionen zu diktieren, um potenzielle Nachahmer zu entmutigen«, sagte Wagenknecht am Donnerstag im ZDF-»Morgenmagazin«. Das sei ein Armutszeugnis für die EU. »Wenn man am Ende glaubt, nur durch Abschreckung und durch Einschüchterung den Zusammenhalt zu erhalten, dann hat man Europa aufgegeben.«
An diesem Donnerstag beraten die Europaminister den letzten Entwurf der sogenannten Leitlinien für die auf zwei Jahre angelegten Austrittsgespräche. Änderungen werden nicht mehr erwartet. Ein Überblick:
Chaos vermeiden
Die EU will einen »geordneten Austritt« Großbritanniens, um »bedeutende Unsicherheiten« und »Störungen« durch den Brexit zu vermeiden. Für die Zeit nach dem Austritt wünscht sich die Rest-EU aus 27 Mitgliedstaaten das Vereinigte Königreich weiter »als engen Partner«.
Scheitern nicht ausgeschlossen
Die Staats- und Regierungschefs wollen aber keine Einigung mit London um jeden Preis: »Die Union wird hart daran arbeiten, ein Ergebnis zu erzielen, wird sich aber darauf vorbereiten, die Situation in den Griff zu bekommen, wenn die Verhandlungen scheitern sollten.«
Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist
Die Gespräche für den EU-Austritt Großbritanniens am 29. März 2019 sollten in ein »einziges Paket« münden. »Einzelne Teile können nicht separat geregelt werden«, heißt es. Die EU-Regierungen wollen sich von London auch nicht gegeneinander ausspielen lassen. Die EU will »ihre Einheit wahren und als Einheit handeln«.
Kein Binnenmarkt à la Carte
Die Leitlinien schließen aus, dass Großbritannien weiter Zugang zum EU-Binnenmarkt nur in bestimmten Wirtschaftsbereichen bekommt. Die Staats- und Regierungschefs begrüßen, dass London erklärt hat, dass die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts für Personen, Güter, Dienstleistungen und Kapital »unteilbar« sind und es »kein Rosinenpicken« geben könne.
Zweistufige Verhandlungen
Nach Artikel 50 wird der Austrittsvertrag geschlossen, »wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird«. Die Staats- und Regierungschefs wollen diese Gespräche aber erst beginnen, wenn es »ausreichende Fortschritte« in der ersten Phase zu den Austrittsfragen gibt.
Nicht alles kann bis 2019 geklärt werden
Die EU ist sich darüber im Klaren, dass die Verhandlungen zu komplex sind, um sie gänzlich bis Ende März 2019 abzuschließen. »Übergangsvereinbarungen« seien deshalb möglich. Sie müssen aber »klar definiert« und »zeitlich begrenzt« sein. In den Übergangsbereichen müsse sich Großbritannien dann aber der EU-Kontrolle und Rechtsprechung unterwerfen.
EU-Bürger in Großbritannien
Das Schicksal der 3,2 Millionen EU-Bürger, die in Großbritannien leben, soll EU-Kreisen zufolge möglichst bis Ende 2017 geklärt werden. Im Leitlinien-Entwurf wurde auf Druck Polens und Ungarns die Forderung aufgenommen, dass EU-Bürger, die bereits fünf Jahre im Vereinigten Königreich leben, dauerhaft bleiben können. Hier strebt die EU »gegenseitige Garantien« an, die dann auch für 1,2 Millionen Briten auf dem Kontinent gelten.
Austrittsrechnung
Die Zahlungen, die London noch an die EU leisten muss, gelten als eines der schwierigsten Brexit-Themen. In den Leitlinien wird gefordert, dass die Briten »alle« finanziellen Verpflichtungen erfüllen und auch zu ihren Zusagen im mehrjährigen EU-Finanzrahmen stehen. Dieser läuft noch bis Ende 2020 - also fast zwei Jahre länger, als Großbritannien noch Mitglied ist. Brüssel schätzt die Forderungen an London auf bis zu 60 Milliarden Euro.
Nordirland
Auch die Grenze zwischen Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland gilt als Problem. Sie wäre nach dem Austritt eine EU-Außengrenze und müsste entsprechend überwacht werden. Irland warnt nach dem blutigen Nordirland-Konflikt vor einem Rückfall in »sektiererische Gewalt«. Die EU will laut den Leitlinien nun »eine harte Grenze« vermeiden.
Gibraltar
Die Halbinsel im Süden Spaniens gehört seit 1713 zu Großbritannien. Sie wird regelmäßig von Madrid zurückgefordert. In den Leitlinien heißt es, »kein Abkommen« zwischen der EU und Großbritannien könne für Gibraltar gelten, solange es dazu keine Verständigung zwischen Madrid und London gebe. AFP/nd
Man müsse doch jetzt sehen, dass man zumindest in der entstandenen Situation beiderseits vorteilhafte Konditionen verhandelt, sagte Wagenknecht. Das sei auch im Interesse der deutschen Wirtschaft, Großbritannien sei ein großer Markt.
Bei einem EU-Sondergipfel am Samstag wollen die Staats- und Regierungschefs der 27 verbleibenden EU-Staaten Leitlinien für die Verhandlungen über den Brexit beschließen. Bundeskanzlerin Angela stellte am Donnerstagvormittag in einer Regierungserklärung im Bundestag ihren Kurs für die Austrittsgespräche mit London dar. Als wichtige Punkte darin wurden die Wirtschaftsentwicklung in der Gemeinschaft und die Finanzplanung der EU ohne den Nettozahler Großbritannien erwartet.
Nach Ansicht von Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) wird Angela Merkel eine konsequente Linie in den Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien verfolgen. »Es muss klar sein, dass es einen Unterschied gibt, ob man dabei ist oder nicht«, sagte Kauder im ZDF-»Morgenmagazin«. Es werde harte, klare Verhandlungen geben. »Aber es wird natürlich auch geschaut, wie die Zusammenarbeit in Zukunft gestaltet werden kann«, sagte Kauder. Auch wenn Großbritannien aus der Europäischen Union austreten wolle, sei das Land weiterhin Mitglied der Nato. Man führe einen gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus. dpa/nd
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