Wir sind die Guten
Nichts gelernt: Das Buch »Hillbilly-Elegie« liest sich wie eine Bilanz der großen Trump-Debatte
Der stärkste Satz steht schon im zweiten Kapitel: »Du kannst den Jungen aus Kentucky rausholen, aber du kannst nicht Kentucky aus dem Jungen rausholen.« Gesagt hat diese weisen Worte nicht etwa ein Lehrer oder eine Sozialarbeiterin. Sie sind keiner Psychologin eingefallen und keinem Jugendrichter. Nein, sie stammen von einer Großmutter aus Jackson, einer sechstausend Einwohner zählenden Kleinstadt im Südosten des erwähnten US-Bundesstaats. Von dort kommen die »Hillbillys«. So nennen sich Angehörige der weißen Arbeiterschaft ulster-schottischer Herkunft. Sie leben in den Appalachen, waren einst die Tagelöhner der Südstaaten, später Bergarbeiter, dann Hilfskräfte in den Sägewerken von Kentucky oder in der Stahlindustrie Ohios.
Mittlerweile sind die meisten von ihnen erwerbslos. Der wirtschaftliche Niedergang der vergangenen Jahre und Jahrzehnte hat auch im »Land of the Free« die Ärmsten mit Abstand am härtesten getroffen. Grund genug für J. D. Vance, die Geschichte dieser Menschen zu erzählen. Er ist selbst am Rande des Existenzminimums aufgewachsen. Im Gegensatz zu den Verwandten - seine kluge Oma eingeschlossen - ist ihm ein ökonomischer Aufstieg gelungen. Der heute 33-Jährige hat an der Yale-Universität studiert und arbeitet für den skurrilen Silicon-Valley-Milliardär Peter Thiel. In den USA verkaufte sich die »Hillbilly-Elegie« von J. D. Vance millionenfach.
Jetzt ist die deutsche Übersetzung von Gregor Hens erschienen. Sie kam offenbar wie gerufen: In dieser Woche erreichte das Sachbuch den zehnten Platz der Spiegel-Bestsellerliste. Wahrscheinlich wäre es noch vor wenigen Jahren - wenn es überhaupt den deutschen Markt erreicht hätte - zum Ladenhüter geworden. Nun tobte aber 2016 in Deutschland eine Debatte um Didier Eribons wichtige Abhandlung »Rückkehr nach Reims«. Insbesondere nach dem für das liberale Establishment schwer verdaulichen Schock der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten intensivierte sich auch hierzulande in den auflagenstarken Medien diese Diskussion um die Frage, ob die linken Kräfte den Bezug zur Arbeiterschaft verloren haben.
In der »FAZ« schrieb Dietmar Dath im November, die Linksliberalen hätten die US-Bevölkerung mit oberlehrerhaftem und moralischem Elan zu »Kosmopolitismus, Antirassismus, Antisexismus« bekehren wollen, »wie ihn die Gebildeten und Toleranten in New York schon lange lieben und leben«. Dabei sei gerade dort die Chancenungleichheit so groß wie nirgendwo sonst in den USA. Die »Süddeutsche Zeitung« griff die These des US-amerikanischen Journalisten Mark Lilla zustimmend auf, wonach die Liberalen eine »moralische Hysterie« um »identitätspolitische Fragen« entfacht hätten, in der materielle Existenznöte der »einfachen Arbeiter« und der Arbeitslosen egal seien.
»Die Zeit« wiederum exponierte sich mit den besten Beiträgen der Debatte. Feuilletonchef Adam Soboczyski schrieb: »Wer ergründen will, warum Zuwanderer hierzulande nicht sogleich in Massen in die Theater strömen, stößt vielleicht zunächst eher auf Bildungsfragen, Sprachbarrieren oder eine soziale Schichtenzugehörigkeit - und nicht auf fehlende Toleranz in den Kulturinstitutionen.« Der Literaturredakteur Ijoma Mangold verwies wiederum auf die Kehrseite der Identitätspolitik: »Diversity wurde gefeiert, aber es wurde nicht gesehen, dass auch ›family values‹ und Abtreibungsächtung von ihren Anhängern als identitätspolitische Herzensangelegenheit betrachtet werden. Jetzt rüstet die Gegenseite identitätspolitisch nach und vergesellschaftet sich über ihre weiße Hautfarbe.«
Im Lichte dieser Diskussionen erscheinen manche analytischen Einlassungen von J. D. Vance wie ein Blick in die Phase unmittelbar vor Trumps Wahlsieg. In den USA erschien die »Hillbilly-Elegie« im Juni 2016. Das Buch atmet größtenteils genau jenen Odem der liberalen Arroganz, der Leuten wie Trump, Le Pen und Erdoğan eine unerwartete Wählerschaft in die Arme trieb und treibt. Vance inszeniert sich als selbsttätig Davongekommener und blickt von diesem hohen Ross beispielhaft auf seine eigene Familie herab: »Wir kaufen riesige Fernseher und iPads auf dem Weg ins Armenhaus. Sparsamkeit ist uns im Innersten zuwider. Wir geben Geld aus und tun so, als gehörten wir zur Oberschicht.« Vom Scheitern in der Schule über eine in diesem Milieu angeblich weit verbreitete Drogenabhängigkeit bis zur dauerhaften Erwerbslosigkeit schustert Vance den Armen selbst die Hauptverantwortung für ihr Elend zu.
Schließlich lebe man im »großartigsten Land der Welt«, in dem der »richtige Lebensstil« jedem einen Aufstieg ermögliche. An Obama faszinieren Vance die Bildung, sein Durchsetzungswille - und dessen auf Toleranz und Weltoffenheit abzielende Politik. Den sich von der Demokratischen Partei abwendenden Teil der weißen Arbeiterschaft empfindet er als ignorant, rassistisch und undankbar. Das erscheint paradox, weil Vance in den autobiografischen Passagen seines Werkes ergreifend über sein Herkunftsmilieu schreibt. Ihm ist bewusst, dass auch er abhängig war von Menschen aus dem Bildungsbürgertum. Er weiß, dass der als »White Trash« denunzierte Part der Arbeiterklasse überwiegend nicht freiwillig am Tropf des kaum mehr vorhandenen Sozialstaats hängt.
Dafür glaubt er, man könne sich wie der Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Im Schlusskapitel taucht ein in dieser Hinsicht bemerkenswerter Satz auf: »Die Politik kann uns unterstützen, aber keine Regierung der Welt kann diese Probleme für uns lösen.« Er lässt sich, wie weite Teile des Buches, auch als Zwischenbilanz der Trump-Debatte lesen. In die Alltagssprache linksliberaler Kreise in den deutschen Metropolen übersetzt, könnte der Satz in etwa so lauten: »Wir spenden gerne gegen Quittung für Kinder in Not, aber den Alkoholismus der Obdachlosen unterstützen wir nicht.«
Kein Wunder, dass die »Taz« sich als einziges sogenanntes Leitmedium in Deutschland während der Trump-Debatte eindeutig gegen die These von der Mitverantwortung der Linken am Aufstieg der Rechten positionierte. Autorinnen und Autoren, die ihr Plädoyer für eine Willkommenskultur nichts kostet außer einem Lächeln, erklärten ihr progressives Weltbild zu einer Frage von Anstand und Moral. So viel auch debattiert wurde in letzter Zeit, fürs Erste zeigen exemplarisch die überwiegend hymnischen Rezensionen der »Hillbilly-Elegie« auch in Deutschland: Noch haben die sorgenfrei lebenden Liberalen nicht viel gelernt.
Dafür spricht, dass die großen Medien die neoliberale Europapolitik des SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz bisher nicht hinterfragen, während der sich rhetorisch zum Arbeiterführer stilisiert. In diese Richtung weist auch, dass die »Taz« in einem Leitartikel jede Verantwortung für den Ausgang des jüngsten Referendums in der Türkei auf die »Unterschicht« abwälzt: »Tatsächlich hat nicht das türkische Volk für die Präsidialdiktatur gestimmt, sondern, wenn überhaupt, der ungebildete, bescheiden informierte Provinzler.« Ähnlich sozialchauvinistisch und weit entfernt von der empirischen Realität ergingen im Sommer 2016 die medialen Urteile über die Befürworter des Brexit.
Aktuell zeigt sich die Unbelehrbarkeit der Linksliberalen im Zusammenhang mit der Stichwahl um die französische Präsidentschaft. Dort unterstützen sie mit Emmanuel Macron ausgerechnet den Kandidaten, dessen identitätspolitisch aufgehübschter Neoliberalismus die rechtsextreme Marine Le Pen überhaupt erst so weit hat kommen lassen. Die »Taz« veröffentlichte am Dienstag ein Interview mit dem Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, in dem so getan wird, als stünde Macron bereits lange vor dem Urnengang als Sieger der Stichwahl fest. Genauso verfuhren auch das »Heute-Journal« im ZDF und einige andere Medienmacher.
Die Parallele zur US-Präsidentschaftswahl ist unübersehbar: Vor dem 8. November 2016 galt Hillary Clinton bei den Mainstream-Medien diesseits und jenseits des Atlantiks schon als sichere Siegerin. Bis das böse Erwachen kam. Es besteht tatsächlich Hoffnung, dass ein solches im Falle Frankreichs nicht eintritt. Allerdings wäre der sich bereits abspielende Albtraum zu verhindern gewesen, hätten die liberalen Eliten sich nicht nur mit abstrakten Referenzgruppen empathisch gezeigt, sondern auch mit jenen Menschen vor der eigenen Haustür, die das Sich-gut-Fühlen der Besserverdienenden ökonomisch auszubaden haben.
Die oft in Resignation und manchmal in Reaktion sich äußernde widersprüchliche Lage der »einfachen Leute« weniger zu verteufeln als vielmehr zu verstehen, das wäre ein Pfad, der noch nicht kaputt getrampelt ist. Die Liberalen sind erstmals seit vielen Jahren gezwungen, ihre Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Weil sie sich in die Defensive manövriert haben, sind jetzt sie am Zug. Es wäre schon viel gewonnen, würden sie die Einsicht der Großmutter von J. D. Vance beherzigen. Ihr eingangs zitiertes Diktum deckt sich mit einer wichtigen Einsicht eines gewissen Karl Marx: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.
J. D. Vance: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. Aus dem Englischen von Gregor Hens. Ullstein. 304 S., geb., 22 €.
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