Ein unerhörter Vorschlag

Europäische Solidarität? Über einen Vorstoß von Sigmar Gabriel, einen Hinweis von Jürgen Habermas und die progressive Linke

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 8 Min.

Sigmar Gabriel war gerade einen Monat im Amt, da tat der Außenminister etwas wahrhaft Unerhörtes: Er schlug vor, die Bundesrepublik solle von sich aus anbieten, mehr Geld an die Europäische Union zu zahlen.

Unerhört war der Vorschlag, weil es bisher stets deutsche Position in den Verhandlungen über die Finanzplanung der EU war, sich für eine Verringerung deutscher Zahlungen einzusetzen. Begleitet wurde dies in der Regel von einem medial-politischen Misston, laut dem die Bundesrepublik der finanzielle Lastesel der Union sei, als Nettozahler immer nur in die Gemeinschaft investiere, aber eigentlich unter dem Strich viel zu wenig herausbekomme.

»Im offiziell so europafreundlichen Deutschland wird so eine verzerrte Sichtweise Europas tief in das politische Alltagsbewusstsein eingegraben«, schrieb der Sozialdemokrat in einem Zeitungsbeitrag im Januar dieses Jahres. »Investitionen in Europas Zusammenhalt und Zukunft wurden zu einer Bürde für die Deutschen umdefiniert.«

Gabriel nahm also, für einen Politiker eher ungewöhnlich, »die Sonntagsreden über die Bedeutung Europas« einmal wörtlich und setzte sie »ins Verhältnis« zu der Bereitschaft, dafür auch etwas zu tun, etwas zu geben. Man könnte in diesem Zusammenhang von Solidarität sprechen, von einer gemeinschaftsorientierten Denkweise also, die aus freien Stücken und vernünftiger Einsicht entsteht. Ein solches soziales Zusammengehörigkeitsgefühl muss aber auch »praktisch werden«, wie der Soziologe Alfred Vierkandt das einmal formuliert hat. Durch Handeln, in Institutionen, als Rechte.

Bereit, mehr zu zahlen?

Davon, dass Europa, dass die EU »solidarischer« werden müsse, ist auch zu Zeiten ihrer bisher wohl schwersten politischen Krise oft die Rede. Und genau hier setzte auch Gabriels Vorschlag an: »Wie wäre es also, wenn wir bei der nächsten Debatte über Europas Finanzen etwas ›Unerhörtes‹ tun?« Nämlich: »Bereitschaft zu signalisieren, sogar mehr zu zahlen«.

In der Tat: Der Vorstoß blieb ein unerhörter - denn er wurde nicht erhört. Eine breite Front der Austeritätsfreunde vom Steuerzahlerbund bis zum Koalitionspartner fertigte Gabriels Beitrag kurzerhand ab. »Es ist der falsche Weg, Europa ungefragt mehr Geld anzubieten«, beschied die CDU knapp. Aber auch in der gesellschaftlichen Linken nahm niemand den Ball auf. Warum?

Man mag das damit erklären, dass Gabriel ein Glaubwürdigkeitsproblem hat, rührte er in europapolitischen Fragen doch gern selbst einmal die Trommel der herablassenden Ermahnung - nicht nur in unsolidarischer, sondern auch in übel nationalistischer Weise, als er etwa der SYRIZA-geführten Regierung in Athen beschied, man werde »die überzogenen Wahlversprechen einer zum Teil kommunistischen Regierung« nicht länger »durch die deutschen Arbeitnehmer« bezahlen lassen. Zur Erinnerung: Es ging seinerzeit um soziale Notprogramme, mit der das Gröbste der Krisenfolgen in Griechenland bewältigt werden sollte.

Dass Gabriels Vorstoß im doppelten Wortsinne unerhört war, verweist aber auch auf einen blinden Fleck der Debatte über die Zukunft der EU: Was würde denn das Reden über »mehr Solidarität« bedeuten? Während an wohlmeinenden Schlagworten kein Mangel ist, werden gern die Klippen der Debatte umschifft: Wie geht Solidarität in der transnationalen Praxis? Was setzte dies für institutionelle Schritte voraus? Und wo fangen wir damit an?

Die Mühlen einzelstaatlicher Politik

Wenn von europäischer Solidarität die Rede ist, denken viele Linke zuerst einmal an Kooperationen von Gewerkschaften, an länderübergreifende soziale Bündnisse. In einem übergeordneten Sinne wird auch die internationale Solidarität der Beschäftigten darunter verstanden - die stärker machen soll gegen die Interessen des Kapitals, auch gegen deren politische Durchsetzung durch nationale Regierungen. Ansätze zur Institutionalisierung, etwa Europäische Betriebsräte oder die Euromärsche der Erwerbslosen, wurden demzufolge stets begrüßt.

Allerdings blieben solche Schritte oft stecken - was als Solidarität europäisch schon gedacht werden konnte, muss praktisch in der Regel noch durch die Mühlen einzelstaatlicher Politik. Und wird dort meist wieder zwischen den Steinen von Standortlogik und nationalem Egoismus zermahlen. Dies ist nicht nur ein Ergebnis der institutionellen Beschaffenheit der EU. Sondern auch eine Frage der Bereitschaft zur Solidarität - die wiederum nicht selten unter dem Druck von Standortdenken oder dem jeweiligen Ort, den Organisationen »innerhalb der globalen Akkumulation« einnehmen, realer Konkurrenz »innerhalb der Klasse« Platz macht.

Dieser Punkt ist es, der auch aktuell etwas mehr Beachtung verdient hätte, handelt es sich doch um die andere Seite jener Medaille, auf der auch die Hoffnung auf eine demokratischere, wirklich politische Union aufgeprägt ist. Und weil der »europäische Bürgerkrieg«, von dem die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot spricht, real ist: Der Konflikt zwischen autoritärem Nationalkapitalismus, dem für den Rechtsruck mitverantwortlichen neoliberalen Status quo und einer dritten Option des sozialen, aufgeklärten, zivilgesellschaftlich verwurzelten Aufbruchs in eine andere EU kann man überall in Europa beobachten.

Soziale Grundfreiheiten und Demokratie

Wo der autoritärem Nationalkapitalismus ein ethnisch konstruiertes »Wir« teils sozial (aber eben auch rassistisch, völkisch oder ethnozentristisch ausschließend) »abzusichern« bereit ist, hat der neoliberale Status oft den sozialstaatlich erreichten Stand institutionalisierter Solidarität auf der nationalstaatlichen Ebene den Verwertungsinteressen des Kapitals geopfert: durch sogenannten Sozialabbau.

Eine dritte Option für Europa bräuchte also ein anderes, neues Fundament der Solidarität, eines, das sozial und transnational ist. Erst wenn die auf Durchsetzung der ökonomischen Grundfreiheiten reduzierte Architektur der EU durch soziale Grundfreiheiten, die Primärcharakter haben müssen, überwunden wird, kann auch der gleichzeitig voranzutreibende Ausbau einer wirklich demokratischen Union gelingen.

Der Kern des »europäischen Bürgerkriegs« ist, »dass wir als nationale Staatsbürger sozial und ökonomisch in Konkurrenz gesetzt werden«, sagt Guérot. Der Linken müsse es jetzt darum gehen, so forderten es dieser Tage auch Gregor Gysi und Jan Korte, »mit einem sozialen Europa ernst zu machen. Die Ergänzung des Lissabon-Vertrags um eine Soziale-Fortschritts-Klausel und die Einklagbarkeit sozialer Grundrechte wären ein Einstieg«, so der Chef der Europäischen Linkspartei und der Fraktionsvize im Bundestag in einem Zeitungsbeitrag.

Der Text von Sigmar Gabriel, von dem am Anfang die Rede war, wäre hinzuzudenken - denn europäische Solidarität wird nicht sein können ohne weit mehr Umverteilung. Zwischen Kapital und Arbeit. Aber auch zwischen Einzelstaaten. Für mehr und ein anderes Europa.

Reziprokes Vertrauen

Jürgen Habermas hat die vielleicht alles entscheidende Frage unlängst auf den Punkt gebracht, als er daran erinnerte, dass der Begriff der Solidarität seit der Französischen Revolution und den frühsozialistischen Bewegungen »nicht als moralischer, sondern als politischer Begriff« verstanden werden muss: »Solidarität ist nicht Nächstenliebe. Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf.«

Was der Knackpunkt ist, hat der Philosoph bei dieser Gelegenheit auch gleich formuliert. Ihn interessiere »die Frage, ob eine Erweiterung europäischer Kompetenzen an der mangelnden Akzeptanz möglicher umverteilungsrelevanter Folgen scheitern muss, wenn die Umschichtung der Lasten über nationale Grenzen hinausreicht«. Scheitert ein solcher Schritt daran, dass es an der dafür nötigen Bereitschaft zur Solidarität fehlt, obwohl die doch im langfristigen Eigeninteresse wäre?

Womit wir wieder bei Gabriels unerhörtem Vorschlag wären. Der SPD-Mann begründete seine neu entdeckte Zahlungsbereitschaft nicht zuletzt damit, dass trotz hoher Überweisungen nach Brüssel die Bundesrepublik in Wahrheit ein »Nettogewinner-Land« sei. Das klingt nicht gerade nach einer klassenpolitischen Perspektive, die darum weiß, dass ein »Gewinner-Land« immer auch heißt, dass andere mindestens ein bisschen verlieren; und dass es auch in diesem »Gewinner-Land« Verteilungskonflikte gibt und kein »Wir«, das über den ökonomischen Interessen steht.

Problemlage europäisch verallgemeinert

Ein Schritt in die richtige Richtung wäre mit Gabriels Vorstoß dennoch verbunden - erstens, weil es die verteilungspolitische Problemlage europäisch verallgemeinert, also auf jene übernationale Dimension bringt, in der eine emanzipatorische Lösung heute nur noch denkbar ist. Und zweitens, weil in Gabriels Idee immerhin schon die Erkenntnis eingebaut ist, dass Solidarität nicht nur ein schönes Wort ist, sondern in der materiellen Praxis im Zweifel auch bedeutet, etwas abzugeben. Gerade für die »Gewinner«.

Nur: Machen denn da die Leute mit? Vor ein paar Jahren haben die Soziologen Jürgen Gerhards und Holger Lengfeld untersucht, ob die Europäer bereit sind, »jedem EU-Bürger die gleichen Rechte und Lebenschancen zu garantieren, unabhängig davon, aus welchem EU-Land er kommt und in welchem EU-Land er sich gerade aufhält«. Befragt wurden Menschen aus dem »reichen« EU-Norden, aus den südeuropäischen Krisenländern und den Unionsneumitgliedern in Osteuropa - das Ergebnis: Weit überwiegend billigten sie sich gleiche soziale Rechte zu, in einer späteren wissenschaftlichen Arbeit war die Rede davon, die EU-Bürger würden sich gegenseitig in Fragen der sozialen Rechte »immer weniger als Ausländer« betrachten.

Noch ist das keine Zustimmung zu globalen sozialen Rechten, das stimmt. Aber es ist weit mehr, als aus den Geräuschen der EU-Krisendebatte dieser Tage herauszuhören ist, in der oft nationaler Egoismus dröhnt, auch wenn wohlfeil über die »Rettung Europas« gesprochen wird.

Diese wird nicht darin liegen, das über Jahre errichtete Haus nun unter Verweis darauf, dass es ein Schiefbau ist, abzureißen. Sondern es schnell um- und auszubauen. Eine Europäische Republik mit echter Wahlrechtsgleichheit, steuerlicher Gleichheit, gleichem Zugang zu sozialen und Freiheitsrechten, mit europäischer Staatsbürgerschaft - das wäre das Ziel der Stunde, es zu erreichen heißt dann auch, europäische Solidarität auszubuchstabieren.

Vielleicht sind die Europäer in der von Habermas aufgeworfenen Frage, »ob eine Erweiterung europäischer Kompetenzen an der mangelnden Akzeptanz möglicher umverteilungsrelevanter Folgen« scheitern müsse, schon viel weiter als jene, die gerade deren Regierung stellen.

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