Das Orakel vom Rhein

Nordrhein-Westfalen und der Bund haben eine lange Geschichte gegenseitiger Beeinflussung

  • Sebastian Weiermann
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor 70 Jahren wurde Karl Arnold zum ersten Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen gewählt. Der CDU-Politiker entstammte der christlichen Gewerkschaftsbewegung und gründete auch den Deutschen Gewerkschaftsbund mit. In der CDU war Arnold nicht unumstritten. Konrad Adenauer und Karl Arnold waren leidenschaftliche Gegner. Kurz nach seinem Antritt sprach Arnold damals von der »sozialen Sendung« des neu geschaffenen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.

Die hochtrabenden Pläne von Karl Arnold, der unter anderem die Schwerindustrie verstaatlichen wollte, wurden schließlich nicht erfüllt. Das lag allerdings nicht an Arnold, der in den ersten Jahren gemeinsam mit der SPD und der KPD regierte, sondern an den Briten, denen diese Pläne im aufziehenden Kalten Krieg nicht gefielen. Was allerdings aus der Zeit von Arnold geblieben ist, ist das Selbstverständnis von Nordrhein-Westfalen als »soziales Gewissen« der Bundesrepublik. Bis 1956 sollte Arnold NRW regieren. Ein Bündnis mit der FDP, das er auf Druck aus der Bundespolitik eingegangen war, brachte ihn aus dem Amt. Arnold selbst hätte lieber mit der SPD regiert. Schon damals spielte die Bundespolitik eine gewichtige Rolle für die Politik in Nordrhein-Westfalen. Kanzler Konrad Adenauer (CDU) hatte eine Änderung des Wahlrechts vorgeschlagen, die zu einem Zwei-Parteien-System geführt hätte. Die Liberalen zeigten in Düsseldorf Zähne und gingen die erste sozialliberale Koalition ein. Für zwei Jahre sollte der Sozialdemokrat Fritz Steinhoff Nordrhein-Westfalen regieren. Seine Regierung war allerdings unbeliebt, und 1958 griff wieder die CDU nach der Macht. Zuerst mit einer absoluten Mehrheit, 1962 mussten die Christdemokraten allerdings auf die FDP als Bündnispartner zurückgreifen.

1966 wurde in Nordrhein-Westfalen gewählt. Nur um Haaresbreite verfehlte die SPD die absolute Mehrheit, so dass CDU und FDP unter Franz Meyers ihr Bündnis fortsetzen konnten. Als die Regierungskoalition aus CDU und FDP in Bonn, nach einem Streit um Steuererhöhungen zerbrach, verließen die Liberalen auch in Nordrhein-Westfalen die Koalition. Sie dienten sich der SPD an und bildeten eine sozialliberale Koalition unter dem Ministerpräsidenten Heinz Kühn. Hier sollte Nordrhein-Westfalen erstmals Modellcharakter für die Bundesrepublik haben. Denn drei Jahre später wurde unter Willy Brandt die gleiche Koalition gebildet. Für die CDU folgten in NRW 39 Jahre in der Opposition. Der Hauptgrund dafür lag im schlechten Abschneiden der Christdemokraten im Ruhrgebiet.

Bis 1978 regierte der Sozialdemokrat Heinz Kühn, dann gab er das Amt an Johannes Rau ab, der das Land bis 1998 führte. 1980 zogen nur SPD und CDU in den Düsseldorfer Landtag ein. In den folgenden 15 Jahren konnten die Sozialdemokraten alleine regieren. Nachdem die sozialliberale Koalition im Bund 1982 durch eine CDU/FDP-Regierung abgelöst wurde, hatte Rau in NRW leichtes Spiel. Nordrhein-Westfalen wurde als soziales Gewissen der Republik wiederentdeckt, bei Fehlentwicklungen gab Rau der Bundespolitik die Schuld. Unter Rau wurde auch der Slogan »Wir in NRW« entwickelt, der einerseits eine Landesidentität stiften, aber andererseits auch klar als Abgrenzung gegenüber dem Bund dienen sollte. Im aktuellen Wahlkampf werben die Sozialdemokraten mit der modernisierten Variante »NRWIR«.

1995 musste Rau dann eine Koalition mit den Grünen eingehen. Ein bundespolitischer Trendsetter war NRW damit aber nicht. Solche Koalitionen waren an der Tagesordnung. Die Wirkung von Nordrhein-Westfalen auf den Bund kann in dieser Hinsicht als gering eingeschätzt werden.

Für die nächste Wende, die von NRW aus für die Bundespolitik eingeleitet wurde, sorgte erst 2005 wieder die CDU mit Jürgen Rüttgers. Mit 44 Prozent wurde die CDU zur stärksten Kraft. Die letzte rot-grüne Landesregierung war abgewählt worden. Noch am Wahlabend erklärte SPD-Chef Franz Müntefering, dass man aus dem Ergebnis in NRW Konsequenzen ziehen werde, und kündigte für den Herbst Neuwahlen an. Aus diesen ging Angela Merkel (CDU) als Bundeskanzlerin hervor. Der Hauptgrund für den Absturz der SPD war die Unzufriedenheit über die von Gerhard Schröder eingeleiteten Arbeitsmarkt- und Sozialreformen.

Dass die SPD 2010 und 2012 wieder zur stärksten Kraft gewählt wurde, hängt ursächlich mit dem Personal der CDU zusammen. Jürgen Rüttgers war nie sonderlich beliebt, sein Nachfolger bei den Neuwahlen 2012, Norbert Röttgen, unterließ es, sich zwischen Bundes- und Landespolitik zu entscheiden. Das Experiment einer Minderheitsregierung unter Hannelore Kraft von 2010 bis 2012 kann als gescheitert betrachtet werden. Was auch am bundespolitischen Gewicht Nordrhein-Westfalens liegt. In Streitfragen wollte im größten Bundesland keine Partei zu viele Zugeständnisse machen.

Auch die bevorstehende Wahl ist unter bundespolitischen Vorzeichen nicht zu unterschätzen. Sollte die SPD nicht stärkste Kraft werden, müsste der Schulz-Effekt endgültig als Strohfeuer bewertet werden. Für die Sozialdemokraten ginge es dann in Berlin nur noch um den Bestand der Großen Koalition. Dieses meist ungeliebte Bündnis ist auch in Nordrhein-Westfalen die wahrscheinlichste Regierungsoption, wenn man den Werten der aktuellen Umfragen glauben schenkt.

Dreierbündnisse sind fast ausgeschlossen, da sich FDP und Grüne an Rhein und Ruhr nicht nahe genug stehen, um wirklich gemeinsam regieren zu können. Für die FDP und ihren Chef Christian Lindner geht es darum, sich zu profilieren und gestärkt in den Bundestagswahlkampf zu gehen. Für die LINKE und die AfD hat die Wahl in NRW jeweils große Bedeutung. Die Linkspartei muss sich endlich im bevölkerungsreichsten Bundesland etablieren. Bisher saß sie nur von 2010 bis 2012 im Landtag. Die AfD würde sich, wenn ein Einzug in Düsseldorf scheitern sollte, im freien Fall befinden. Auch ihr Einzug in den Bundestag könnte dann gefährdet sein. Es ist also spannend, wie NRW am Sonntag wählt.

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