Lob des Tarifrituals
Kurt Stenger über vier Jahre Arbeitskampf bei Amazon
Es wird gerne abfällig als »Tarifritual« geschmäht: Alle ein oder zwei Jahre verhandeln Vertreter von Gewerkschaften und Unternehmensverbänden über die Konditionen der Arbeitsverhältnisse in Branchen oder einzelnen Firmen und einigen sich nach anfangs klassenkämpferischer Konfrontation nach einigen Wochen händeschüttelnd auf einen Kompromiss. Viele Beschäftigte des Online-Händlers Amazon in Deutschland wären vermutlich froh, wenn sie Teil eines solchen Rituals wären. Hier weigert sich der Konzern seit nunmehr vier Jahren, mit ver.di überhaupt über einen Einzelhandelstarifvertrag zu verhandeln. Die Gewerkschaft beweist langen Atem, setzt auf innovative Streikformen - und kommt doch keinen Schritt weiter.
Die Internetriesen geben sich gerne cool, als Vertreter einer neuen smarten Zeit. Beschäftigte sollen sich glücklich schätzen, dabei sein zu dürfen. Sie sollen sich aufopfern für die Firma, deren Erfolg sich nach der höchst unsteten Relevanz im Netz bemisst, oder sich was Anderes suchen. Was modern daherkommt, hat etwas von Frühkapitalismus: Auf Dauer Beschäftigte mit geregelter Arbeitszeit, gewerkschaftlicher Vertretung und stetig steigenden Festgehältern? Das ist für die Internetkonzerne analoger Schnee von gestern. Gerade auch linke Kritiker sollten daher vorsichtig sein, wenn sie das »Tarifritual« kritisieren. Es geht noch viel schlimmer.
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