Bring die Wahrheit auf die Bühne
Theatertreffen: Milo Rau präsentiert mit »Five Easy Pieces« ein verstörendes Stück über Kindesmisshandlung
Ein Künstler, dessen Arbeit in einem demokratisch verfassten Staat ernsthaft von Verboten bedroht oder sogar davon betroffen ist, kann so falsch nicht liegen. Im März dieses Jahres versuchte der Präsident der Christdemokratischen Partei Frankreichs, die Aufführung von Milo Raus »Five Easy Pieces« in Nanterre bei Paris zu verhindern. Durch eine Online-Petition gewann Jean-Frédéric Poisson eine fünfstellige Zahl an Unterstützern für sein Vorhaben. In Frankfurt am Main durfte die Produktion im November 2016 nicht gezeigt werden. Der offizielle Grund: ein Verstoß gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz. Denn in der am Wochenende in den Sophiensælen zur Theatertreffen-Premiere gelangten Inszenierung stehen fast nur Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren auf der Bühne.
Empörung rief bei den selbst ernannten Sittenwächtern aber erst die Kombination mit dem Thema des Stückes hervor. Es geht um die eng mit der jüngeren Historie Belgiens verknüpfte Geschichte des Lehrersohns Marc Dutroux, der in den 1990er Jahren mehrere Mädchen zwischen acht und neunzehn Jahren entführt, gefoltert, sexuell misshandelt und ermordet hat. Seit 20 Jahren sitzt er im Knast und gilt als Inkarnation des Bösen. In Belgien kennt ihn jedes Kind. Das zeigt schon der Beginn dieser in flämischer Sprache abgehaltenen Versuchsanordnung. Peter Seynaeve, der einzige Volljährige in dem als Casting angelegten Spiel, gibt den zwischen strengem Lehrer und zartem Herbergsvater balancierenden Zeremonienmeister.
Erst hält er ein Foto des kongolesischen Freiheitskämpfers Patrice Lumumba in die Höhe, den nur eine Beteiligte sofort erkennt. Anschließend ist ein Bild zu sehen, das Dutroux zeigt. Aufgeregt hüpfen die sieben Kinder umher und debattieren. Die Verbrechen des Mannes können sie sofort herunterbeten. Sie wissen sogar, dass er die ersten Jahre seines Lebens in der belgischen Kolonie in Afrika verbracht hat und vier Jahre alt war, als der Kongo 1960 unabhängig wurde. Zwischendurch begleitet Pepijn Loobuyck auf dem Keyboard den zu den Pianoklängen von Erik Satie tanzenden Winne Vanacker und die einen Song von Rihanna singende Elle Liza Tayou.
Es ist ein Vorgeplänkel, das Autorregisseur Milo Rau bewusst in die Länge zieht, um die im Titel aufscheinende Leichtigkeit zu erzeugen, mit der er seinen Abend über Pädophilie atmosphärisch grundiert. »Five Easy Pieces«, so nannte Igor Strawinsky seine Klavierübungsstücke für Kinder. Launig, jovial, ja fast heiter verteilt Seynaeve die Rollen für die fünf Miniaturen, in denen die Gruppe das Unfassbare zu begreifen versucht. Das Publikum ist plötzlich mit diesem Thema auf eine Weise konfrontiert, das es ihm unmöglich macht, dem Spektakel innerlich unbeteiligt oder ohne klare Haltung zu folgen.
Seit Jahren gelingt es Milo Rau, den Fokus des Kulturbetriebs auf Themen zu lenken, mit denen sich dieser ansonsten bestenfalls in für ihn bequemer Art befasst. 2012 ließ der Schweizer die Erklärung des rechtsradikalen Massenmörders Anders Behring Breivik von einer türkischstämmigen Schauspielerin verlesen. Was Breivik denkt, so lehrte dieser Abend, das ist nicht etwa randständiger Müll eines psychisch Kranken. Nein, Warnungen wie die vor »Kulturmarxismus« und »Migrantenflut« entstanden vielmehr zum Beispiel in mit bierseligen Wohlhabenden vollgestopften CSU-Veranstaltungen, denen auch sich abschottende Bessermenschen aus Berlin-Prenzlauer Berg nichts entgegensetzen wollen.
In Moskau spielte Rau im Angesicht der russischen Zensoren die Schauprozesse gegen Andersdenkende nach. »Hate Radio« betitelte er sein dokumentarisches Theater zum Genozid in Ruanda, mit dem er schon 2012 zum Theatertreffen eingeladen war. Zuletzt katapultierte der 40-Jährige mit seiner Europa-Trilogie ebenso wie mit dem Schaubühnen-Abend »Mitleid« das Flüchtlingsthema und die Hilfsindustrie beklemmend in die Schauspielhäuser, ohne dabei auf das Elend der Moral zurückgreifen zu müssen. Es geht Rau immer darum, ästhetisch ambitioniert die Wahrheit auf die Bühne zu bringen. In »Five Easy Pieces« treibt er das auf die besonders schmerzende Spitze.
Wenn Rachel Dedain vom Spielleiter gefragt wird, ob sie ihn als Schauspielerin küssen würde oder wenn er das Kind vor der Kamera bittet, sich auszuziehen (»Auch die Hose!«), dann bewegt sich diese Reflexion über Spiel und Realität hart an der Grenze des Erträglichen. Gleiches gilt für Originalausschnitte aus verzweifelten Briefen der Opfer an ihre Eltern, in denen sie genau schildern, was Dutroux mit ihnen anstellt. Oder aber für jene Diskussionen, in denen das Ensemble eigene Machtfantasien reflektiert (der eine verbrennt gern Wespen, der andere tötete einen Vogel) und in denen die Kinder über den eigenen Tod nachdenken.
Milo Rau verhandelt in jeder seiner Produktionen alle großen und wichtigen philosophischen Fragen, ohne auch nur ansatzweise belehrend daherzukommen. Indem er das Theater zur Bühne des Lebens macht und alle ästhetischen Mittel dieser Kunstform ausschöpft, entwickeln sich Inszenierungen, die zum Intensivsten, Innovativsten und gesellschaftlich Relevantesten gehören, was derzeit auf deutschsprachigen Bühnen zu sehen ist. Für »Five Easy Pieces« erhielt er am Samstagabend den 3sat-Preis. Es wird sicher nicht die letzte Auszeichnung bleiben. Ab der Spielzeit 2018/19 wird Milo Rau unter die Theaterdirektoren gehen: Dann übernimmt er den Intendantenposten am Nationaltheater im belgischen Gent.
Nächste Vorstellungen: 20. und 21. Mai im Haus der Berliner Festspiele
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