Europa in der Solidaritätskrise?

Eine Mehrheit der Bundesbürger will EU-Krisenstaaten und Geflüchtete unterstützen, weiß Holger Lengfeld

  • Holger Lengfeld
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Europäische Union kommt aus dem Krisenmodus nicht heraus. Auf die Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise 2009 folgten übergangslos die Flüchtlingskrise, das Brexit-Votum der Briten und derzeit die Sorge über die unberechenbare Politik von Donald Trump. Angesichts dessen sehen manche die EU überfordert, handlungsunfähig, ohne echten Einigungswillen und die europäische Integration am Ende angekommen. Andere, wie jüngst der neugewählte französische Präsident Macron und der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), wollen die EU stärken - auch durch mehr Maßnahmen zur Herstellung von Gleichheit und Solidarität in Europa.

Ist das Zusammenwachsen Europas vorläufig am Ende oder gilt das Gegenteil? Dazu lohnt ein Blick auf das Gemeinsame der vergangenen Krisen. Im Kern waren sie alle Solidaritätskrisen. Brüssel und die Mitgliedsstaaten haben nicht vermocht, in der jeweiligen Situation besonders belastete Menschen wie Länder solidarisch zu unterstützen. In der Wirtschaftskrise wurden, wenn überhaupt, wenig wirksame EU-Maßnahmen gegen Armut und Jugendarbeitslosigkeit installiert. In der Staatsschuldenkrise wurden Hilfsgelder an Sparvorgaben geknüpft, die die wirtschaftliche Lage der Krisenstaaten teilweise dramatisch verschlechterten. In der Flüchtlingskrise ist es bis heute zu keinem Konsens über Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten in den Mitgliedsstaaten gekommen. Und mit dem Brexit wollte die Mehrheit der Briten, dass Schluss sei mit Geldzahlungen an schwächere EU-Staaten und der Einwanderung von Arbeitskräften aus Polen, Bulgarien und Co.

Einen Grund für das Zaudern von EU und nationalen Regierungen sehen einige Experten darin, dass die Bürger mit den Solidaritätszumutungen schlicht überfordert sind. Zugespitzt formuliert: Immer mehr Menschen lehnen es ab, Solidarität, die bisher den Angehörigen der eigenen Nation vorbehalten war, auf Menschen anderer Länder auszudehnen. Frust scheint sich aufzustauen, auch in Deutschland. Der anhaltende Erfolg der AfD bei Landtagswahlen kann als Hinweis dafür gelten, dass die Solidaritätsbereitschaft eines Teils der Deutschen mit den Schwachen in Europa und der Welt erschöpft scheint.

Diese Diagnose steht jedoch im Widerspruch zu jüngeren Forschungsergebnissen. So zeigt eine gemeinsame Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) und der Universität Leipzig: Knapp die Hälfte der Deutschen findet es richtig, dass Deutschland EU-Länder unterstützt, die sich in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden, nur ein Drittel ist dagegen, der Rest hat keine Meinung (DIW-Wochenbericht 39/2016). Diese Solidaritätsbereitschaft mit EU-Ländern ist zugleich viel größer als mit Staaten, die nicht zur EU gehören. Und: Sogar ein Drittel der Deutschen ist bereit, aus eigener Tasche einen dauerhaften europäischen Solidaritätsbeitrag zu zahlen. Zugleich erwarten die Bürger von den Krisenländern auch einen Eigenbeitrag zur Bewältigung der Situation. Aber: Die dort lebenden sozial Schwachen sollen von Sparmaßnahmen unbedingt ausgenommen werden.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Bereitschaft der Deutschen zur Aufnahme von Geflüchteten. In einer weiteren DIW-Studie geben über 80 Prozent an, dass Menschen, die vor Krieg fliehen, in Deutschland Schutz finden sollen. Für die Aufnahme von religiös, wegen ihrer politischer Aktivität oder sexuellen Orientierung Verfolgten plädiert ebenfalls eine Mehrheit. Fällt der Fluchtgrund im Heimatland jedoch weg, so möchte gut die Hälfte der Bürger, dass die Geflüchteten Deutschland wieder verlassen; nur rund ein Viertel will ein dauerhaftes Bleiberecht gewähren. Dies zeigt: Asyl ist aus Sicht einer knappen Mehrheit der Deutschen ein Gastrecht, es soll kein Mittel der Einwanderungspolitik sein (DIW-Wochenbericht 21/2016).

Offenbar sind die Deutschen also keineswegs solidaritätsmüde. Vielmehr hat ein Großteil Verantwortung für die Schwachen inner- und außerhalb Europas bereits angenommen. Teil dieser Verantwortung ist aber, Solidarität nicht mit reiner Barmherzigkeit oder Nächstenliebe gleichzusetzen. Ob Krisenländer oder Geflüchtete: Hilfe soll gewährt werden, solange der Grund zur Hilfe besteht. Sie soll dazu dienen, Kräfte zur Selbsthilfe zu stärken. Diese Sichtweise kann man aus politischen oder moralischen Gründen kritisieren. Man sollte jedoch zur Kenntnis nehmen, dass ein Großteil der Bevölkerung diese Sichtweise teilt.

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