Wenig Hoffnung auf faire Prozesse

Deniz Yücel seit 100 Tagen in Haft / Vater von Mesale Tolu berichtet über Schikanen türkischer Behörden

Wenn eine Regierung 100 Tage im Amt ist, werden erste Bilanzen gezogen. Die 100 Tage, die der Journalist Deniz Yücel in der Türkei im Gefängnis sitzt, sprechen Bände über die Regierung Erdogan. Abenteuerliche Anschuldigungen, eine nicht vorhandene Anklageschrift, absurde Vorverurteilungen vom Präsidenten persönlich, Einzelhaft, keine Post, eine Stunde pro Woche Besuch von Angehörigen: »Jeder einzelne Tag, den er im Gefängnis verbringen muss, ist eine Schande für die türkische Justiz«, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (ROG), am Dienstag. »Deniz Yücel muss sofort freigelassen werden und so schnell wie möglich einen fairen Prozess bekommen, damit er sich gegen die haltlosen Anschuldigungen zur Wehr setzen kann.«

Ein fairer Prozess, wie ihn Yücel selbst kürzlich für sich forderte, ist derzeit allerdings wenig wahrscheinlich. Erst zum Wochenbeginn wurden zwei seiner türkischen Kollegen, die Chefredakteure des Nachrichtenmagazins »Nokta«, Cevheri Güven und Murat Capan, wegen eines satirisch-kritischen Titelblatts auf Kosten von Präsident Recep Tayyip Erdogan in Abwesenheit zu 22 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.

Der Vater der inhaftierten deutschen Journalistin Mesale Tolu, Ali Riza Tolu, berichtet im nd-Interview von Behinderungen von Seiten der türkischen Polizei beim Besuch seiner Tochter: »Ich musste etwa Dokumente der ganzen Familie vorzeigen, um zu beweisen, dass ich ihr Vater bin. Diese Schikanen dauern und verkürzen die Besuchszeit.« Auch sei Mesale Tolu im Gefängnis bedroht und unter Druck gesetzt worden. Ihr wird weiterhin auch die Betreuung durch das deutsche Konsulat verweigert, auf die sie ein Recht hätte, da sie, anders als Yücel, ausschließlich über einen deutschen Pass verfügt.

Insgesamt sind ROG zufolge derzeit 165 Journalistinnen und Journalisten in türkischer Haft. Mehr als 47 000 Menschen wurden seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli vorigen Jahres festgenommen und mehr als 100 000 Menschen entlassen.

Gegen 221 mutmaßlich am Putsch Beteiligte begann derweil am Montag ein weiterer Massenprozess. Den Angeklagten, unter ihnen der in den USA lebende Prediger Fethullah Gülen sowie zahlreiche Offiziere, wird die »Ermordung von 250 Menschen« und »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« vorgeworfen.

Am Dienstagabend sollte in München eine Solidaritätslesung für Deniz Yücel und alle anderen inhaftierten Kolleginnen und Kollegen stattfinden. Es müsse jetzt auch über wirtschaftliche Sanktionen nachgedacht werden, forderte die Journalistin Doris Akrap, Mitorganisatorin der Free-Deniz-Kampagne, bei einer ähnlichen Veranstaltung am Wochenende in Frankfurt am Main. »Es ist der einzige Druck, den Erdogan auch versteht«, sagte sie.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.