Ein Denkmal für die glasnostlose Zeit
Andrej Bitow: Zu seinem 80. Geburtstag erschien sein »Georgisches Album« in erweiterter Neuausgabe
Andrej Bitow ist eine Kultfigur der russischen Postmoderne, die er gemeinsam mit Wassili Axjonow, Viktor Jerofejew, Jewgeni Popow, Sascha Sokolow und anderen in der »Tauwetter«-Periode der 1960er Jahre begründete. Nachdem Bitow sich 1979 an dem unzensierten Almanach »Metropol« beteiligt hatte, traf ihn bis zum Beginn der Perestroika ein Publikationsverbot. Doch schon vorher hatte er sich damit abgefunden, dass seine Texte in der Sowjetunion nur stark verfremdet und als »work in progress« herauskommen konnten. Seine großen kryptischen Romane »Das Puschkinhaus«, »Mensch in Landschaft« und »Der Symmetrielehrer« erschienen komplett im »Tamizdat« (also im Ausland), in der UdSSR jedoch nur »scheibchenweise«.
Auch das »Georgische Album«, das nach den poetischen »Armenischen Lektionen« von 1969 entstand, ist ein »work in progress«. Bereits in dem Band »Sieben Reisen« (1976) finden wir drei georgische Kapitel. Darin würdigt Bitow Tiflis, das »wie ein Nest« am Steilufer der Kura hängt, und drei georgische Künstler - den Filmregisseur Otar Iosseliani (»Die Weinernte«, 1967) sowie die Drehbuchautoren Rewas Gabriadse (»Eine ungewöhnliche Ausstellung«, 1968) und Erlom Achwlediani (»Pirosmani«, 1969). Der Almanach »Metropol« enthielt die Erzählungen »Der letzte Bär«, »Die öde Straße« und »Die Beerdigung des Doktors«, alle drei später Kapitel im »Georgischen Album«. Als Buch kam das Album zuerst 1985 in Tiflis heraus, vierzehn Episoden, die von Bestand waren, und einige, die später in andere Bücher Eingang fanden. Die erste deutsche Übersetzung von Rosemarie Tietze (Suhrkamp 2003) fußte auf einer Moskauer Ausgabe von 1996. Ihr folgt auch die nun erweiterte Neuausgabe, die in Vorwort und Epilog Ergänzungen aufweist.
Mit Georgien verbindet Bitow ein besonders inniges Verhältnis. Stolz verweist er in einem Interview auf seine »kaukasischen Wurzeln« und seinen »tscherkessischen Namen«. Obwohl er der orthodoxen Kirche fern stehe, habe er sich in Georgien, wo eine christlich-orthodoxe Staatsreligion herrscht, 1982 taufen lassen. Im Album schreibt er: »Armenien hatte ich erschlossen, nach Georgien kehrte ich zurück. Wie nach Hause.«
Das Buch, in seinen Augen »ein Denkmal für die glasnostlose Zeit«, nennt er Album, weil die georgischen Kapitel mit russischen wechseln. Als er sie 1970 zu schreiben begann, war »Sowjetisches und Russisches noch deutlich geschieden«, und es schien, dass »Georgien sogar mehr Russland wäre als Russland selbst, jedenfalls mehr Russland als die Sowjetunion«. Die UdSSR in der Phase der »Stagnation«, der imperialen Großmannssucht, der verordneten Völkerfreundschaft, der Ausbreitung der Dissidentenbewegung und der Blüte des Sam-izdat stürzte Bitow in Verzweiflung, weil »wir nichts als den teuren Leonid Iljitsch vor uns hatten, und das für immer«. Deshalb reiste er nach Georgien - wie vor ihm schon Pasternak und Sabolozki.
Das Bemerkenswerte am »Georgischen Album« ist, dass es keine Reisebeschreibungen liefert, sondern sich darauf konzentriert, Fluchtorte zu finden, »Drehorte auszuwählen«, als ob ein Film entstehen sollte, wie es in dem Kapitel »Das Phänomen der Norm« heißt. Der Reisende nimmt sein Recht der freien Wahl wahr, schreibt in Georgien über Russland und in Russland über Georgien. Die Handlungsorte überlagern und vermengen sich in seinem Gehirn, unterlaufen, parodieren und persiflieren die sowjetrussische Alltagsrealität. Dazu bedient sich der Autor eines extrem persönlichen, manchmal bissigen und schnoddrigen inneren Monologs, der die im traditionellen Reisebild dominierende Beschreibung weitgehend verdrängt. Wie der Untertitel des Albums verrät, ist Bitow in Georgien »auf der Suche nach der Heimat«. Aus dem Spannungsfeld von Fremdem und Eigenem sucht er Erkenntnisse über Russland und die eigene Identität zu gewinnen. Dabei beruft er sich auf die Kaukasuserlebnisse der Klassiker Puschkin, Lermontow und Tolstoi, schildert die Eindrücke beim Besuch der Wohnhäuser Tschechows, Turgenjews, Soschtschenkos und Rustawelis.
Georgien sei einmalig, Tiflis nicht minder, einmalig auch das gastfreundliche Haus Otar Iosselianis und erst recht der Freund selbst, formuliert Bitow enthusiastisch. Er erwägt, ob die Russen die Georgier lieben, weil diese keine Russen sind: »Nicht wir. Aber wie wir. Aber besser als wir ... Nein, nicht besser natürlich - schöner.« Im Kern ist das »Georgische Album« von dem Gedanken geprägt, dass die Völker des Kaukasus und die Russen zusammengehören, weil sie ein gemeinsames Schicksal verbindet. Und auch in Russland gibt es für den Autor einen Ort ohne den verhassten imperialen Geist, an dem er zu Hause sein kann: Petersburg, »diese ausgedachte und Russland aufgezwungene Stadt«, das Venedig oder Palmyra des Nordens, »ein zweites Paris, aber nicht ein zweites Moskau«.
Andrej Bitow: Georgisches Album. Auf der Suche nach Heimat. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Fotos von Guram Tsibakhasvili. Suhrkamp Verlag. 281 S., geb., 22 €.
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