Migration von links gedacht
Die Geschichte der Zuwanderung und der Menschen zeigt, wie ein solidarisches Einwanderungsrecht aussehen könnte
I. Die große Zahl von Schutzsuchenden, die vor allem seit 2014 nach Deutschland gekommen sind, hat eines klar gemacht: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Kann es ein linkes Konzept für ein solidarisches und modernes Einwanderungs- und Integrationsrecht geben? Ein Einwanderungsrecht, das die »Festung Europa« nicht zum Einsturz bringen, aber in einem wichtigen Einwanderungsland in der Mitte Europas Bewegungsfreiheit, soziale Sicherheit, Gleichstellung und Teilhabe gewährleisten kann? Die Vorsitzenden von sieben Landtagsfraktionen der LINKEN sind der Auffassung, es muss möglich sein. Eine Projektgruppe hat in ihrem Auftrag ein Konzept für ein linkes Einwanderungsrecht erarbeitet. DIE LINKE hat als politisch gestaltende Partei die Verantwortung, Fragen von BürgerInnen und den Menschen, die zu uns kommen, konkret zu beantworten. Die Geschichte der Migration und der Menschen zeigt, warum Einwanderungsrecht von links gedacht werden muss.
Durchlässige Grenzen sind in der Welt des 21. Jahrhunderts eine Tatsache, der man sich stellen muss. Deswegen ist linke Politik auch eine Politik offener Grenzen. Der Anspruch auf Bekämpfung und Überwindung der Fluchtursachen, auf ein humanes europarechtliches Flüchtlingsrecht sowie auf die solidarische Bewältigung der Fluchtbewegung durch die Länder der EU wird dabei nicht aufgegeben.
Simone Oldenburg, Jahrgang 1969, ist Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern.
Carola Bluhm, geboren 1962, und Udo Wolf, ebenfalls Jahrgang 1962, führen die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Swen Knöchel, geboren 1973, ist linker Fraktionschef im Landtag von Sachsen-Anhalt. Ralf Christoffers, geboren 1956, führt die Linksfraktion im Brandenburger Landtag. Rico Gebhardt, Jahrgang 1963, ist Vorsitzender des sächsischen Landesverbandes der Linkspartei und zudem Oppositionsführer im Sächsischen Landtag. Susanne Hennig-Wellsow, Jahrgang 1977, führt die Linksfraktion im Thüringer Landtag.
Offene Grenzen bedeuten jedoch nicht, dass Zuwanderung und Integration sich regellos vollziehen können. Soziale Verantwortung setzt sich nicht im Selbstlauf durch. Ein langer Atem ist nötig, und ohne öffentliche Debatte und ohne eine Veränderung von Kräfteverhältnissen wird es keine Veränderungen zum Besseren geben.
Wenn Deutschland ein Einwanderungsland ist, dann muss sich aber auch die deutsche Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft entwickeln, entsprechend gestaltet und umgebaut werden. Dabei wird sich unsere Gesellschaft verändern, und diese Veränderungen werden in den Alltag aller eingreifen, die in unserem Lande leben. Es gilt auf diesem Wege Grundwerte des Zusammenlebens wie Demokratie und Pluralismus, Rechtsstaat und Freiheit des Individuums, Säkularität und Gleichstellung der Geschlechter, soziale Gerechtigkeit und Chancen für alle unter diesen veränderten Bedingungen zur Geltung zu bringen. Diese Debatte zu einem mittlerweile zentralen Thema für Bürgerinnen und Bürger wird beeinflusst durch die unübersehbaren Schwierigkeiten von Politik und Verwaltung, Kräfte und Ressourcen angemessen zu organisieren und so auch die äußerst stark beanspruchten ehrenamtlichen Flüchtlingshelferinnen und -helfer zu entlasten. In Ländern und Gemeinden, in Willkommensinitiativen und im Gespräch mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern sammeln wir vielfältige Erfahrungen, müssen sich linke Politik und linke Argumente bewähren. Wir streben mit aller Kraft eine moderne, solidarische Einwanderungs- und Integrationspolitik an. Zugleich müssen wir dort, wo wir Regierungs- oder kommunale Verantwortung tragen, geltendes Recht respektieren und umsetzen. Dabei stoßen wir auf Grenzen und Defizite. Deswegen wollen wir dafür sorgen, dass Recht und Gesetz sich weiter entwickeln, dass sie dem Neuen in der Gesellschaft eine solide Basis und eine tragfähige Perspektive geben.
II. Die internationale Gemeinschaft hat im 20. Jahrhundert aus der Realität beständiger Überwindung von Grenzen und ganzen Kontinenten durch Menschen gelernt und allen Menschen unveräußerliche Schutz- und Teilhaberechte zugesprochen. Damit hat sie die Grenzen der Nationalstaaten zu durchlässigen Grenzen gemacht: Menschen, die flüchten, erhalten ein Recht auf Asyl, das ihr Leben schützt. Die Integrität der Menschen, die ihren Lebensort verändern, wird rechtlich anerkannt. Sie erhalten grundlegende Rechtsansprüche. Auch in den nationalen Verfassungen der Nachkriegszeit und der Konstituierung der Europäischen Union und des Europarats ist dieser Lernprozess ablesbar.
Heute muss dieser Lernprozess nochmals verteidigt, durchgekämpft und neu orientiert werden. Deshalb schlagen wir ein eng mit dem europäischen und internationalen Menschenrechtsschutz verzahntes Einwanderungsgesetz vor. Dort wo Menschen leben, arbeiten und ihre sozialen Bezüge aufbauen und zum gesellschaftlichen Leben beitragen, sollen sie auch die Möglichkeit haben, im vollen Sinne am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und einen abgesicherten, dauerhaften Rechtsstatus als Einwanderer erhalten. Darüber hinaus muss die Chance auf eine vollumfängliche Staatsbürgerschaft all jenen offen stehen, die über einen längeren Zeitraum in der BRD leben oder hier geboren werden.
Wir konzentrieren uns dabei auf drei Säulen:
Die erste Säule ist ein Einwanderungsgesetz, das es ermöglicht, als Einwanderer regulär in der BRD zu leben.
Die zweite Säule ist das Asylrecht, das Menschen in Not schützt.
Die dritte Säule ist das Staatsangehörigkeitsrecht, das den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft öffnet.
Unser Vorschlag für ein linkes Einwanderungsgesetz beschränkt sich zunächst auf die drei genannten Säulen und stellt lediglich Verweise zur vierten Säule der weitergehenden notwendigen politischen, finanziellen oder juristischen Eingriffe dar.
III. Im Mittelpunkt eines Einwanderungsgesetzes stehen für uns die Bedürfnisse der Menschen und damit die individuellen Gründe und Ursachen für Migration, nicht die Bedürfnisse und ökonomischen Zwänge des deutschen Arbeitsmarktes. Ein LINKES Einwanderungsrecht muss drei Aufgaben erfüllen: Es muss bestehende aufenthaltsrechtliche Fragen systematisieren, liberalisieren und entbürokratisieren. Dabei bleibt der Anspruch an ein LINKES Einwanderungsrecht, menschenrechtliche Mindeststandards bei der Einwanderung wiederherzustellen, Zugänge zu sozialer Sicherung und gesellschaftlicher Teilhabe zu erleichtern und entsprechende Hürden abzubauen, bestehen. Anstelle der Formulierung von Ausnahmen wollen wir die Voraussetzungen und rechtlichen Grundlagen für eine legale Einreise und einen legalen Aufenthalt bestimmen.
Das geltende Aufenthaltsgesetz verfolgt die »Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern«. Im Mittelpunkt eines LINKEN Einwanderungsrechtes soll der soziale Anknüpfungspunkt einer Person stehen. Ein sozialer Anknüpfungspunkt ist gegeben, wenn familiäre Beziehungen bestehen oder Familienangehörige von Personen einreisen, eine Ausbildung/Studium oder Erwerbstätigkeit aufgenommen werden soll, eine Gemeinwohltätigkeit begonnen wird oder sonstige Gründe für eine soziale Verwurzelung sprechen.
Ein LINKES Einwanderungsrecht ergibt einen Anspruch auf Zugang zu Integrations- und Sprachkursen, berechtigt zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und garantiert den Zugang zu Bildungseinrichtungen und den vollumfänglichen Zugang zu Institutionen und Angeboten der Sozialberatung. Illegalisierte Menschen sollen einen legalen Aufenthaltsstatus erhalten. Die Anordnung einer Ausreisepflicht ist die Ultima Ratio und kann nur unter strengsten Voraussetzungen auferlegt werden. Inklusion statt Abschiebung ist der Grundsatz dieses Einwanderungsrechts.
IV. Das Asylrecht dient dem Zweck, den Menschen ein Bleiberecht zu verschaffen, die aus Zwang ihren Herkunftsort verlassen haben, weil ihnen dort eine Gefahr droht oder ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist. Das bestehende Recht des internationalen und nationalen Schutzes stellt in seinen Grundlinien und durch die potenziellen Spielräume für Behörden und Gerichte einen hinreichenden Rahmen für schutzbedürftige Menschen bereit. Die wesentlich erforderlichen Änderungen des gesetzlichen Rahmens betreffen daher vielmehr die Prüfung von Anträgen auf Schutz. Das bedeutet unter anderem: Ein Visum zur Asylantragstellung muss in der deutschen Vertretung im Ausland beantragt werden können. Für das Verfahren und die Anhörung müssen die AntragstellerInnen selbstgewählte DolmetscherInnen und Rechtsbeistand erhalten. Schnellverfahren in »Ankunftszentren« oder Flughäfen sind ausgeschlossen. Änderungen des Grundgesetzes sind unausweichlich. Das Asylgrundrecht soll durch die Abschaffung des Konzepts der »sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten« wiederhergestellt werden. Zudem soll gesichert werden, dass eine Verfolgung auch dann vorliegt, wenn eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu befürchten ist.
V. Was das Staatsangehörigkeitsrecht anbelangt, sollen einige Regelungen des bestehenden Gesetzes beibehalten werden, zum Beispiel, dass Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt bei einem deutschen Elternteil erhalten bzw. Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, wenn ein Elternteil ein unbefristetes Aufenthaltsrecht hat. Für jedes in Deutschland geborene Kind soll die Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit bestehen und die Mehrstaatigkeit prinzipiell möglich sein. Die Einbürgerung hat nach drei Jahren legalen Aufenthalts auf Antrag zu erfolgen.
VI. Wir schlagen die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes vor. Nur so wird die Gleichstellung der Asylbewerberinnen zu anderen Menschen gewährleistet. Das heißt: Wer seinen gewöhnlichen Wohnsitz in der BRD hat, hat Anspruch auf Leistungen nach SGB II, soweit die anderen Voraussetzungen vorliegen. Das Wahlrecht soll allen Menschen zustehen, die ihren Aufenthaltsort in Deutschland haben. Die Anerkennung ausländischer bzw. im Ausland erworbener Abschlüsse soll vereinfacht werden. Und EinwanderInnen sollen einen Anspruch haben, umfassend in der Sprache, in der sie sich am besten verständigen können, beraten zu werden. Dies bedeutet, dass die Beratungsangebote deutlich erweitert müssen.
VII. Bei den Diskussionen um Einwanderung geht es nicht nur um Fragen der Inklusion von Schutzsuchenden und Zuwandernden; es geht grundlegender um die Frage, was die soziale Basis unseres Gemeinwesens ist. Wir setzen auf ein »inklusives Wir all derer, die hier leben«. Das entspricht der gelebten Praxis in vielen Städten und Gemeinden, in vielen größeren und kleineren Unternehmen, in Gewerkschaften genauso wie in Sportvereinen und zivilgesellschaftlichen Initiativen.
Die Forderung nach »Offenen Grenzen für Menschen in Not« und dem grundsätzlichen Anspruch auf Bewegungsfreiheit (»Offene Grenzen für alle Menschen«) aus dem Erfurter Programm der Partei DIE LINKE kann nur so verstanden werden, dass die Gesellschaften für Einwanderungsbewegungen so offen und durchlässig wie möglich gehalten werden. Dies macht allerdings einen rechtlichen Regulierungsbedarf erforderlich, der es ermöglicht, einen abgesicherten Rechtsstatus zu erhalten und den bestehenden Status zu verbessern. Damit wäre auch ein Weg angegeben, der auf die Realisierung von »Bewegungsfreiheit« hinwirkt: Durch die schrittweise Realisierung globaler sozialer und demokratischer Rechte auf unterschiedlichen Ebenen (national, inter- und transnational) und Foren (parlamentarische Gesetzgebung, Gerichtsbarkeiten, inter- und transnationale Politikregime etc.) verlieren die territorialen Staatsgrenzen an ausgrenzender Macht.
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