Zwischen zwei linken Theoriemackern

Chris Kraus und ihr autobiographischer feministischer Roman »I love Dick«

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 5 Min.

Die 1955 geborene Schriftstellerin und Filmemacherin Chris Kraus gilt seit ein paar Jahren als Geheimtipp, vor allem im Bereich des Experimentalfilms. Ihr Debütroman »I love Dick« machte in den USA schon vor gut zehn Jahren Furore. Wobei das damals eine Wiederentdeckung war. Denn als das Buch erstmals 1997 im kleinen, vornehmlich auf linksradikale Theorietexte spezialisierten Verlag Semiotext(e) erschien, der unter anderem das vor einigen Jahren viel diskutierte Büchlein »Der kommende Aufstand« in einer englischen Übersetzung herausbrachte und weltweit publik machte, krähte kein Hahn nach dem autobiographischen feministischen Roman von Chris Kraus. Da nun aber Amazon das Buch in Form einer Streamingserie verfilmt hat, die ab dem 9. Juni ausgestrahlt wird, ist der als hippe feministische Zeitgeistliteratur angepriesene Roman auch auf Deutsch erschienen und findet längst nicht mehr nur im linksradikalen und feministischen Milieu zahlreiche Leser.

Der titelgebende »Dick« steht zwar ebenso für das männliche Glied oder, korrekt aus dem amerikanischen Englischen übersetzt, für »Schwanz« wie auch für »Arschloch«, ist aber außerdem der Vorname eines Universitätskollegen von Chris Kraus’ Ehemann, in den sich die Enddreißigerin nach einem Abendessen verliebt. Hinter Dick verbirgt sich kein Geringerer als der britische Soziologe Dick Hebdige, der als eine Art Papst der Subkulturforschung gilt und dessen 1979 veröffentlichte Studie »Subculture: The Meaning of Style« nicht nur bahnbrechend für die damalige soziologische Forschung war, sondern sich streckenweise auch wie eine knackige Kulturreportage über die Entstehung der Punkbewegung liest.

Der Ehemann von Chris Kraus wiederum ist Sylvere Lotringer, ein französischer Jude, der als Kind im Versteck den Holocaust in Frankreich überlebte und als einer der wichtigsten akademischen Vermittler der Poststrukturalisten von Baudrillard bis Deleuze in den USA gilt. Kurz und knapp: Die feministische Künstlerin Chris Kraus, die damals vor dem drohenden Scheitern ihrer Karriere stand, sitzt mit zwei hochrangigen linken Theoriemackern beim Abendessen und verknallt sich in Dick.

Nach diesem Abendessen schreibt Chris Kraus an Dick einen Brief, in dem sie ihr Begehren formuliert, sendet das Schreiben aber nicht ab. Stattdessen klinkt sich ihr Mann Sylvere, als er davon erfährt, begeistert ins gemeinsame Briefeschreiben ein und verfasst ebenfalls lange Texte an Dick. Diese Schreiben werden zu Bestandsaufnahmen ihrer Beziehung und ihrer jeweiligen Lebenssituation.

Nach einigen Tagen haben die beiden sage und schreibe einen Textkorpus von über 80 Seiten zusammen. Sollen sie diese Briefe nun abschicken oder in ihrem eigenen Verlag Semiotext(e) veröffentlichen? Natürlich kommt es zu einer ganzen Reihe Peinlichkeiten, als Dick, der für die beiden zur Projektionsfläche unterschiedlichsten Begehrens und weitergehender Reflexionen wird, von den Texten erfährt und sich auch noch eine von Chris’ Liebeserklärungen an ihn im falsch adressierten Faxgerät seines Universitätsdekans findet. Schließlich endet das Semester in Kalifornien, wo sich diese eigenwillige Geschichte um Lieben und Begehren entspinnt, und Chris fährt mit Sylvere zurück nach New York in ihr eigentliches künstlerisch-intellektuelles Biotop. Nur hält Chris’ Ehe mit Sylvere nicht mehr allzu lange und dann nach der Trennung kommt es irgendwann doch noch zur lange ersehnten Affäre mit dem erst so freundlichen Dick, der seinem Namen dann aber (im Sinne des eingangs erwähnten »Arschlochs«) alle Ehre macht.

Chris Kraus’ Buch, das stellenweise durchaus seine Längen hat, ist eine Mischung aus Tagebuch- und Briefroman, denn Dick ist der »perfekte Zuhörer«, »stiller Partner« und erotischer Bezugspunkt, vor dem die zum damaligen Zeitpunkt erfolglose Künstlerin ihr ganzes Leben ausbreitet. Dabei geht es nicht nur um ihre eigene Biographie, sondern auch um zahlreiche andere Künstlerinnen, viele davon unbekannt, die irgendwo im subkulturellen Off der New Yorker Kunst- und Kulturwelt der 1970er und 1980er Jahre lebten und produzierten.

Und immer wieder geht es um das Verhältnis zu ihrem Ehemann, dem linken Theoriestar, mit dem sie zusammen zu Kongressen fährt, in deren Programmheft sein Name prangt, während sie - obwohl sie dort auch einen Workshop gibt - nicht namentlich auftaucht.

In diesem Roman voll gediegenem Namedropping aus der Kunst- und Wissenschaftswelt sitzt Chris mit Sylvere dann auch mal beim Dinner im Loft des Philosophen Felix Guattari, unter anderem mit dem postmarxistischen Theorieguru Antonio Negri, und regt sich über die »kulturell bedeutenden, schweinebackigen Männer mit ihren parisisch-gestriegelten, stummen jüngeren Frauen« auf. Ihr reicht es, ein »akademisches Groupie« zu sein und immer nur als Sylvere Lotringers Frau zu gelten - egal ob es um die hippe Partyeinladung oder den Universitätskongress geht. Denn während sie Ende der 1970er Jahre in Oben-ohne-Bars tanzte, um ihre Filme zu finanzieren, machten die Männer mit ihrem kritischen Denken fleißig Karriere und erhielten ihre ordentlichen Professuren. Aber wie aus diesem Dilemma ausbrechen?

In den fiktionalen Briefen an Dick schafft sich Chris Kraus einen Freiraum, um gegen diese hierarchische Ordnung anzuschreiben. Die männliche Dominanz wird subversiv unterlaufen. Dabei wird dieses Tagebuch stellenweise zu einem manifestartigen Text über prekäres Leben und die Kunstproduktion von Frauen. Wieso sind Kurt Cobain und Jim Morrison geniale Künstler gewesen, wenn dagegen alles, was Janis Joplin tat, nur als Teil einer zwangsläufigen Abwärtsspirale gelesen wird? »Sobald wir ein Mädchen ihren Tod wählen lassen - Janis Joplin, Simone Weil -, wird der Tod zu ihrer Definition, zum Resultat ihrer ›Probleme‹.«

Als Chris Kraus ihr Buch vor 20 Jahren schrieb, war diese Art autobiographischer Literatur von Frauen nicht weit verbreitet, wohingegen heute feministische Texte, unter anderem auch in Form von Blogs, eine ganz andere Reichweite und Wirkmächtigkeit haben und ein Stück weit als zeitgeistige Errungenschaft gelten. Das dürfte auch der Grund sein, warum Amazon aus dem Buch eine Serie macht, für die übrigens Jill Soloway verantwortlich zeichnet, die bereits mit der Serie »Transparent« über eine Transgenderfamiliengeschichte überaus erfolgreich war. Der vorab veröffentlichte 30-minütige Pilotfilm bei Amazon wird dem Buch aber leider nicht einmal ansatzweise gerecht. Also lieber doch den Roman lesen.

Chris Kraus: I love Dick. Aus dem Amerikanischen von Kevin Vennemann. Matthes und Seitz, 296 S., geb., 22 €.

Die gleichnamige Serie läuft ab 9. Juni bei Amazon.

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