Es fehlt die fünfte Ecke
Vor fünfzig Jahren versuchte die Bundesregierung, den Kapitalismus zu steuern
Die Vorarbeiten zum Projekt begannen bereits 2010. Ein Jahr später berief Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) dann eine unabhängige Geschichtskommission. Deren Mitglieder sollen die Wirtschaftspolitik seit 1917 aufarbeiten. In der Öffentlichkeit wird zwar vor allem die Rolle des Ministeriums in der NS-Zeit beachtet, doch das liberale Ideal einer »Ordnungspolitik der unsichtbaren Hand« war zuvor in der Weltwirtschaftskrise an seine Grenzen gestoßen. Daraufhin, so die Kommission, habe das 1949 gegründete Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) in Bonn mit einer »Ordnungspolitik der sichtbaren Hand« eine ganz eigene Strategie entwickelt.
Das BMWi habe »eine überraschend aktivistische Politik betrieben«, heißt im im Dezember 2016 veröffentlichten Abschlussbericht. Ziel wäre dabei die Erhöhung der Produktivität der westdeutschen Volkswirtschaft bei gleichzeitiger Milderung »sozialer Anpassungslasten« gewesen. Als »potenzielles Überschussland« habe Westdeutschland zunächst der US-Politik als Instrument gedient, um Westeuropa zu stabilisieren und gegen die Sowjetunion zu stärken. Diese systematische Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit habe sich »auf dem Weltmarkt nach der Rückkehr Chinas und der Öffnung des Ostblocks umso mehr ausgezahlt«, jubelt das BMWi im Monatsbericht Januar.
Als Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaftspolitik nach dem »Wirtschaftswunder« gilt das sogenannte Magische Viereck. Das »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« wurde am 8. Juni 1967 erlassen. Dem späteren »Superminister« Karl Schiller (SPD) ging es darum, so das unternehmensnahe Institut der Deutschen Wirtschaft Köln (IW), »ein konjunkturpolitisches Eingreifen des Staates gesetzlich zu legitimieren«.
Das Stabilitätsgesetz verpflichtet den Staat, vier gesamtwirtschaftliche Ziele zu verfolgen: Stabile Preise, hohe Beschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie Wirtschaftswachstum. Weil diese Ziele kurzfristig in Konflikt zueinander geraten können, spricht man gerne vom Magischen Viereck der Wirtschaftspolitik.
Mit dem Gesetz reagierte die erste Große Koalition erstaunlich schnell auf erste Krisensymptome. Das Bruttoinlandsprodukt war 1966/67 geschrumpft und die registrierte Arbeitslosigkeit stieg auf 2,1 Prozent. Erinnerungen an die Massenarbeitslosigkeit Ende der 1930er Jahr wurden wach und beflügelten Wünsche nach einer Globalsteuerung frei nach John Maynard Keynes. Mit zwei vergleichsweise geringen Investitionsprogrammen konnte die Regierung die Minirezession stoppen. Die Gesamtwirtschaft schwenkte bereits 1968 wieder auf einen Wachstumspfad ein.
Für Marktfundamentalisten gelte das nur 33 Paragrafen umfassende Stabilitäts- und Wachstumsgesetz »als Todsünde«, schreibt Professor Rudolf Hickel vom Bremer Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW) in einer Stellungnahme. Allerdings müssten Widersprüche abgebaut und die Ziele erweitert werden.
Bereits 1990 hatten Hickel und Jan Priewe in einer Studie für die Grünen angeregt, ökologische Nachhaltigkeit als fünftes Ziel in das Gesetz aufzunehmen. Es fehlen aus heutiger Sicht auch die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft und die Risiken durch globalisierte Finanzmärkte. Die Bundesregierung Angela Merkels (CDU) hatte 2013 in ihrem Regierungsprogramm eine Modernisierung des Magischen Vierecks angekündigt. Doch die Koalition, kritisiert Hickel, habe ihre Reformzusage nicht weiterverfolgt.
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