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Wohlstand und Gesundheit neu denken
Der Ökonom Tim Jackson erforscht die Wurzeln von Care
In der wachstumskritischen Bewegung hat sich der britische Wirtschaftswissenschaftler Tim Jackson mit seiner Studie »Wohlstand ohne Wachstum« von 2009 einen festen Platz gesichert. Industriell hoch entwickelte Staaten sollten demnach, auch aus ökologischen Gründen, einem neuen Wohlstandsbegriff folgen.
In der Folge musste der Brite wiederholt erleben, dass er zu hochrangigen internationalen Konferenzen zwar eingeladen wurde, aber gerade die Gegner einer jeglichen Degrowth-Perspektive Oberwasser hatten, etwa im Zusammenhang mit neuen Technologien, die diverse Probleme des Kapitalismus lösen sollten. Seine Rolle war mitunter nur die eines Stichwortgebers. Befördert durch einen eigenen kleinen Unfall, vertiefte sich Jackson in die Geschichte von Care und legt nun in einem neuen Buch grundlegende Gedanken zu einer »Ökonomie der Fürsorge« nieder.
Wer Jacksons Gedanken folgen will, sollte bereit sein, sich zunächst über die umfassende Bedeutung des englischen Worts »Care« klar zu werden, die weit über Sorge oder Fürsorge hinausgeht. Keine Angst, der Autor nimmt die Leserschaft dabei mit. Er taucht tief in die Vergangenheit, bis in die Welt der Götter, aber auch in die Geschichte des englischen staatlichen Gesundheitssystems und in die Geschichte medizinischer Modelle. Das ist einerseits unterhaltsam, andererseits benötigt Jackson für seine Darlegungen etliche teils traumhaft anmutende Szenen, die verschiedene Themen verknüpfen und wohl seiner Nebentätigkeit als Bühnenautor entsprechen. Hier wäre weniger mehr gewesen.
Aktuellen Verirrungen der Gesundheitsversorgung im kapitalistischen Zeitalter gibt der Autor viel Raum. Darunter die Opioid-Krise in den USA oder die durch falsche Ernährung befeuerte Epidemie nicht übertragbarer Krankheiten, darunter Diabetes Typ 2. Er nutzt sie nicht nur für eine Kritik der Pharmaindustrie, sondern auch für eine Spurensuche, wie die Branche überhaupt einen so großen Einfluss auf die Gesundheitssysteme gewinnen konnte.
Wurzeln dieser Medizin der Gegenwart fand Jackson auch in einer Studie von Abraham Flexner. Der Pädagoge sollte Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA den Zustand der medizinischen Fakultäten bewerten. Er tat dies mit Unterstützung der Carnegie- und der Rockefeller-Stiftung. Flexners Empfehlungen führten letztendlich dazu, dass »mit einem Federstrich« fast die gesamte damalige Naturheilkunde auf den Müll verbannt wurde, ebenso ihre Prinzipien wie Ganzheitlichkeit und Prävention. Die moderne laborgestützte, »wissenschaftliche« Medizin konnte durchstarten.
Die Idee, dass die Entstehung von Krankheiten zuvörderst auf Keime zurückzuführen ist, so Jacksons Schlussfolgerung, fiel nicht aus Zufall mit dem Aufstieg der pharmazeutischen Industrie zusammen. Hier kam die Kausalität nicht von einem der beiden Faktoren, sondern von einem dritten: nämlich schlicht vom Kapitalismus. Das würde auch erklären, warum Care – von den Löhnen der Pflegekräfte bis zum Schutz der Umwelt – rücksichtslos zur Seite geschoben wird, damit andauernd Profite generiert werden können. Die unendliche Kette von neuen Medikamenten, die Probleme nicht lösen, sondern neue schaffen, die mit wieder neuen Medikamenten bekämpft werden sollen, ergibt so einen Sinn.
Wenn Krankheit ein Versuch des Körpers ist, Gesundheit wiederherzustellen, müsste Politik darauf zielen, ungesunde Bedingungen zu minimieren. Das Gegenteil ist der Fall, begünstigt durch die Pharmaindustrie. Jackson hat so ein weiteres gewichtiges Argument für eine Wende zu einer Degrowth-Ökonomie freigelegt.
Tim Jackson: Ökonomie der Fürsorge. Oekom-Verlag, 480 Seiten, 28 Euro.
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