Ein kleiner Beitrag zur Linksverdrossenheit
Roberto J. De Lapuente erklärt, warum Kritik an Personen wie Luther und Marx zu moralischem Gesinnungsimperialismus führen kann
Ganz plötzlich entrollten die jungen Leute ein Plakat: »Luther, du mieses Stück Scheiße! Antisemitismus, Sexismus, Despotismus – kein Grund zum Feiern!« Stimmt ja auch. Wenigstens der zweite Teil davon. Der Luther war da nun wahrlich nicht ohne. Es gibt halt nur einen Haken an den Vorwürfen: Der Mann lebte vor 500 Jahren, wurde in eine Zeit hineingeboren, in der solche Haltungen Standard waren. Es ist schon sonderbar, jemanden Sexismus zum Vorwurf zu machen, der in einer Epoche lebte, in der Sexismus begrifflich noch nicht mal vorstellbar war.
Ist man folglich ein Antisemitenfreund, Sexismusbefürworter oder Despotentoleranter, weil man einer historischen Figur gedenkt, die in ihrem Repertoire auch solch Anklänge aufbot? Das wäre echt übel, denn jeder, der auch nur behauptete, dass Herr Marx das Fach der Ökonomie bereichert hat und überdies wegweisend war für dessen Zukunft, der setzte sich in den Ruch falscher Freundlichkeit. Der Mann nannte Ferdinand Lasalle immerhin einen »jüdischen Nigger«, was nicht ganz klärt, ob er jetzt eher antisemtisch oder rassistisch motiviert war. Und dann hat er auch noch eine Hausangestellte geschwängert. Auch da muss man abwägen, was schlimmer wiegt: Gesinde gehabt zu haben oder dieses Dienstverhältnis schändlich für die eigene Lendenfreude ausgenutzt zu haben?
Im Mai 2018 steht dann ein Fest an: Karl Marx' Zweihundertster. Farbe und Pinsel sind schon bestellt, das Plakat ist Formsache. Hier könnte man allerdings einsparen. Warum nicht einfach das Plakat der Hallenser Antifa reaktivieren, den »Martin Luther« durchstreichen und einen »Karl Marx« draufklecksen? Diese Sparmaßnahme kann wahllos wiederholt werden. Egal, wer gerade im Jubiläumsjahr steckt: Es passt doch letztlich immer.
Kirchentag: Luther ist nicht der, für den man ihn feiertLuther mal anders: Frauen als Gebärmaschinen, Menschen als Arbeitstiere, Autoritätshörigkeit, Aufruf zur Gewalt gegen Juden. Aktivisten in Potsdam kritisieren den unreflektierten Umgang mit Martin Luther zum Kirchentag.
Nehmen wir nur Kant: Auch der alte Geizhals hielt sich einen Diener. Und weshalb zum Henker stand er nicht offen dazu, dass er Männer mochte, so wie man sich das heute bei einem aufgeklärten Aufklärer vorstellt? Der Revuekomponist Friedrich Hollaender schrieb urkomische Couplets und musste als Jude vor den Nazis flüchten. »Ich lass mir meinen Körper schwarz bepinseln« summte mancher auch noch, als der bereits in Hollywood exilierte: Blackfacer und Rassist! Warum hat sich Herbert Marcuse so oft mit Kippe oder Stumpen ablichten lassen? Dachte er etwa nie an die Jugendlichen, die viel zu früh zu Nikotin greifen und deshalb Wachstumsstörungen bekamen? Diese Frage sollte man plakativ stellen, wenn er nächstes Jahr im Juli 120 Jahre alt würde.
Dies alles sich Vorwürfe, die von moralischem Gesinnungsimperialismus entgegen aller Zeitenläufte zeugen. Mit den Erkenntnissen späterer Generationen über historische Personen ethisch zu urteilen, die diese Erkenntnisse nicht für sich in Anspruch nehmen konnten: Auch das ist Leitkultur. Wenn auch eine, die nicht nur den Raum als Grund und Boden heranzieht, sondern gleich noch die Zeit aufgreift, um sie dem Leitgedanken gegenwärtiger Moralüberlegenheit unterzuordnen. Sie gestaltet sich fundamentalistisch, indem sie jegliche Ambivalenz als Möglichkeit menschlicher Anwesenheit grundsätzlich ausklammert und überdies eine moralische Reinheit postuliert, deren Messlatte entweder zu hoch liegt oder die man mit gegenwärtigen Kennzahlen auf vergangene Zeiten anwendet.
Da ist den Mädels und Jungs der Hallenser Antifa etwas gelungen, was der normale Bürger da draußen ja ohnehin zu ahnen glaubt: Die Linken halt, deren Leitkultur ist moralinsauer und hin und wieder etwas weltfremd. Und flugs generalisiert man, schmeißt die jungen Zeitimperialisten und die Linken, die Linkspartei eben, in einen Topf und macht deren Stand noch ein bisschen schwerer.
Mit Aktionen wie dieser im Bezug auf Luther, gelingt eines ganz sicher nicht: Die Menschen in Sachsen-Anhalt - oder wo auch immer -, vom gesellschaftlichen Rechtsruck hin zu einer Öffnung für linke politische Alternativen zu bewegen. Dergleichen manifestiert die Linksverdrossenheit, die wir uns sozio-ökonomisch betrachtet, als Gesellschaft eigentlich nicht leisten können. Avantgardismus, Moralismus, Rigorismus – kein Grund zum Feiern!
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