Lasst euch länger nicht befehlen

Er erfand das Kinderschauspiel: Zu seinem 80. Geburtstag gibt Volker Ludwig die Leitung des Berliner Grips-Theaters ab

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 6 Min.

Eigentlich wollte er Pfarrer werden. Dass Volker Ludwig dann doch Germanistik und Kunstgeschichte studierte, sollte sich nicht nur für den Kulturbetrieb als segensreich erweisen. Man stelle sich vor, dieser mit Eigensinn gebenedeite Erfinder des modernen Kindertheaters hätte in den sechziger Jahren der jungen Christenheit in Gottesdiensten von der Kanzel herab in salbungsvollem Ton verkündet, was er tatsächlich in Liedtexten verarbeitete: »Mädchen, lasst euch nichts erzählen! / Wehrt euch, traut euch, bis es glückt! / Lasst euch länger nicht befehlen, / was sich für ein Mädchen schickt.« Oder das hier: »Erika ist mies und fad, / doch Papi ist Regierungsrat, / drum macht sie ganz bestimmt das Abitur. / Peter ist gescheit und schlau, / doch sein Vater ist beim Bau, / drum geht er zur neunten Klasse nur.«

Wäre Volker Ludwig stattdessen Politiker geworden, er ließe sich kaum anders vorstellen denn als unglücklicher Mensch - nicht nur wegen einer Linkspartei, die im Jahr 2017 noch immer nicht an den aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Privilegien der Kirchen rütteln will. Früh hatte er einen Spruch seines Vaters, des Schriftstellers und Kabarettisten Eckart Hachfeld (1910 - 1994), verinnerlicht: »Langeweile ist eine Todsünde.« Da musste sein Weg fast zwangsläufig in die Kunst führen. Und die hat ihn ganz und gar nicht zum unglücklichen Menschen gemacht. Das wird schon bei der lediglich flüchtigen Wahrnehmung jenes Gesichtsausdrucks offenbar, den er bei der Begrüßung vor dem Interview mit dieser Zeitung aufsetzt und sagt: »Mein Bruder Rainer ist als Karikaturist ja sehr aktiv bei euch!«

Den Kopf leicht zur Seite geneigt, erscheint Volker Ludwigs Strahlen so zugewandt und von Herzen kommend, dass es dem Gast vom »nd« die Mundwinkel unwillkürlich nach oben und ihm selber die Augen zudrückt. Natürlich muss der nicht sehr groß gewachsene Mann mit der Struwwelfrisur dabei auch seine obere Zahnreihe präsentieren. Deren kieferorthopädisch nicht ganz optimale Stellung erweckt beinahe den Eindruck, als wären die Attribute »spitzbübisch« und »verschmitzt« nur für diese Person erfunden worden. Dabei hat man es hier mit jemandem zu tun, der an diesem Dienstag seinen 80. Geburtstag feiert.

1937 in Ludwigshafen am Rhein geboren, zog er mit seiner Familie nur zwei Jahre später nach Erfurt. Noch vor Gründung der DDR siedelten die Hachfelds 1948 nach Hamburg und wenige Jahre darauf nach Westberlin um. Eine ostsozialistische Prägung erhielt Volker Ludwig damit nicht. Dafür hat sich aber bis heute sein thüringischer Zungenschlag erhalten, der im Gespräch leicht auszumachen ist. Zum Beispiel, wenn er über sein Pseudonym spricht: »Das musste damals schnell gehen. Ich wollte als junger Student satirische Texte unter meinem bürgerlichen Namen veröffentlichen. Da ich den aber mit meinem Vater teilte, hätte das Ärger geben können, selbst mit einem ›junior‹ dahinter.« Der Vorname »Volker« sei einem damaligen Freund entliehen, der Nachname »Ludwig« höchstwahrscheinlich eine Reminiszenz an seine Geburtsstadt. So genau wisse er das aber nun wirklich nicht mehr.

Der Raum, in dem Volker Ludwig seine Geschichte erzählt, wirkt wie eine besonders geräumige Abstellkammer. Um den hellbraunen Konferenztisch herum stehen Stahlregale, in denen sich Spielpläne, Stücktexte und Zeitschriften des in diesem Haus am Berliner Hansaplatz beheimateten Grips-Theaters stapeln. An der Stirnseite kündigt ein lilafarben unterlegtes Plakat für den 8. November 2008 die Uraufführung eines »Schauspiels mit Musik« an. Abgebildet ist das schwarze Konterfei Rosa Luxemburgs, versehen mit einem roten Stern auf dem Haupthaar und dem löchrigen Schriftzug »Rosa«.

Ein Willkommensgruß für den Redakteur der »sozialistischen Tageszeitung«? Volker Ludwig setzt sich auf einen Stuhl und zieht lächelnd den Kopf ein: »Nein, das hängt immer da.« Wer nichts mit seinem Namen verbindet, würde schnell merken, dass der feine Anzug, in dem der Theatergründer steckt, nicht dessen übliche Dienstkleidung ist. Er verstehe sich nach wie vor als Sozialist: »Jeder, der in diesem Theater arbeitet, ist in irgendeiner Art und Weise links.« Sein Stück »Rosa« befinde sich nicht mehr im Repertoire, sei aber als DVD erhältlich. Am kommenden Samstag feiert eine Neubearbeitung von Ludwigs Werk »Eine linke Geschichte« ihre Premiere im Grips. Es ist ein ironisches Selbstporträt der Westberliner Linken der sechziger Jahre, ergänzt durch originale Nummern des legendären Westberliner Reichskabaretts.

So hieß die Spielstätte, die Volker Ludwig 1966 gründete und die als »Keimzelle« des drei Jahre später entstandenen Grips-Theaters gilt. Die Idee der antiautoritären Erziehung faszinierte ihn, der damals bereits Vater eines Sohnes war. Schließlich sei ihm klar geworden, dass auch die Kinder »eine unterdrückte Klasse« waren. Kindertheater sollte fortan mehr sein als Märchen und Sagen. Das Politische im Privaten wollte Ludwig ihnen ohne erhobenen Zeigefinger künstlerisch nahebringen.

Wer auch nur den Hauch einer Ahnung hat, welch reaktionärer Wind damals durch die Bundesrepublik wehte, dem schwant auch, gegen welche Widerstände das Grips-Theater von Beginn an zu kämpfen hatte. Volker Ludwig faltet die Hände vor dem Bauch und lässt den Blick schweifen, während er von dieser Zeit redet: »Wir hatten Auftrittsverbot in den CDU-Bezirken, weil wir angeblich die Kleinsten kommunistisch indoktrinierten.« Das habe noch keine große Wirkung gezeigt, weil viele Lehrer dieses neue Theatergenre zu schätzen wussten. Das Verhältnis zu DDR-Kollegen beschreibt Ludwig als »respektvoll, aber distanziert«, sodass sich daraus politisch kein Strick drehen ließ. Erst in den Siebzigern wurde es ernst: »Man lastete uns eine Nähe zur RAF an, worauf manche Schulen uns mieden und wir vor dem Ruin standen.«

Nicht zum ersten Mal, denn das Grips-Theater blieb auch dann noch unterfinanziert, nachdem der Zensur-Spuk im Laufe der achtziger Jahre verschwand. Heute erhält das »Theater an der Parkaue« sechs Millionen, das Grips aber nur drei Millionen Euro pro Jahr an staatlicher Zuwendung. Volker Ludwig erklärt sich das mit eingefahrenen Strukturen, die zu ändern erst der kürzlich inthronisierte Berliner Kultursenator Klaus Lederer versuchen wolle. Die Auslastungsquote des Grips-Theaters läge bei über 80 Prozent. Darauf ist Ludwig als Geschäftsführer stolz, obwohl er ungern mit Statistiken argumentiert. Zumal sein Haus die Spitzenzahlen nur erreiche, weil es viele Abendvorstellungen spiele mit Erwachsenenstücken wie »Eine linke Geschichte« und vor allem Volker Ludwigs weltweit erfolgreichem Musical »Linie 1«.

Er hat über 30 Stücke geschrieben, die mehr als 1800 Mal in 47 Ländern nachinszeniert wurden. Erst jetzt aber kann er sich guten Gewissens aus dem operativen Geschäft zurückziehen. Vor fünf Jahren übergab Ludwig die künstlerische Leitung an Stefan Fischer-Fels. Mit dem seien atmosphärische Probleme aufgetreten. Zum Beispiel, weil er die innerbetriebliche Demokratie nicht mitgetragen habe. Ludwig betraute darum 2016 Philipp Harpain mit dem Chefposten. Unter ihm gehe, findet Ludwig, gerade die »beste Spielzeit in der Geschichte des Hauses« zu Ende. So fällt dann auch am Schluss des Gesprächs diese entscheidende Erkenntnis nicht schwer: Da ist einer ganz mit sich im Reinen.

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