In Seelengewittern
»Die Welt im Rücken« - Joachim Meyerhoff dreht am Wiener Akademietheater durch
Wie erzählt man von sich als einem Idioten? Joachim Meyerhoff hat da so seine Ideen. Mit funkelnden Augen strahlt er ins Publikum. Ihm allein gehört der Bühnenraum mit dem Industriehallenflair und der am vorderen Rand platzierten Tischtennisplatte. Erdrückend wirkt schon der Charme, mit dem er Leute aus den Zuschauerreihen zieht und sie zum Pingpongduell auffordert. Die in hellem Ton klackernden Bälle kramt er aus einem Papiersack. Während Meyerhoff die runden Dinger auch nach der Entlassung seiner Komparsen mit Schlägern, Händen und anderen Utensilien malträtiert, beginnt er, sie mit aller Geistes- und Leibeskraft zu spielen, diese absonderliche Geschichte einer Krankheit des Schriftstellers Thomas Melle. Der hat seinen Schmerz in dem nicht als Roman und nicht als Sachbuch zu klassifizierenden Werk »Die Welt im Rücken« verarbeitet.
Jedem dürfte der Name dieses Leidens geläufig sein, dessen Dimensionen konnten Unbeteiligte vor dem Erscheinen von Melles autobiografischer Seelenpräsentation trotzdem noch nie so plastisch, so erschütternd und so kunstvoll nachvollziehen. Melle laboriert an einer bipolaren Störung, besser bekannt und treffender bezeichnet als »manisch-depressive Erkrankung«. Erst 2016 erschien dieser Steckerzieher von einem Erfahrungsbericht. Es dauerte also nicht lange, bis Regisseur Jan Bosse diese bemerkenswerte Selbstoffenbarung für die Theaterbühne adaptierte.
Neben dem szenischen Stil des auch als Stückeschreiber aktiven Melle lässt sich für die schnelle Umsetzung noch ein mindestens ebenso wichtiger Grund ausmachen. Denn für die bereits im März zur Premiere gelangte Inszenierung des Akademietheaters Wien, die jetzt für eine einzige Vorstellung am Deutschen Theater Berlin gastierte, drängte sich die Idealbesetzung ganz von alleine auf. Ensemblemitglied Joachim Meyerhoff gilt nicht nur als herausragender Schauspieler, dem ein dreistündiges Solo schon vorab bedenkenlos zugetraut wurde. Er hat außerdem eine biografische Nähe zum Thema. Als er ein kleiner Junge war, übernahm sein Vater die Leitung einer psychiatrischen Anstalt. Jahrelang lebte die Familie auf dem Gelände der Klinik. Auch Meyerhoff hat seine Reminiszenzen aufgeschrieben. Sie sind wichtiger Bestandteil der bislang dreibändigen Reihe »Alle Toten fliegen hoch«.
Er weiß also aus eigener Anschauung, was es heißt, wenn zum Beispiel urplötzlich alle Bücher weg sind: »Seltsam, sein Ich in die Dinge um einen herum zu projizieren. Seltsamer allerdings, diese Dinge zu verschleudern, ohne es eigentlich zu wollen.« Vor Jahren hat Melle den größten Teil seiner über Jahre mühsam angesammelten Privatbücherei verkauft. Ihm, dem bibliophilen Poeten aus »einfachen Verhältnissen«, waren die foliantenen Nachweise seines Intellekts und diese Spiegelbilder seiner Innerlichkeitserkundungen zum Ballast geworden. Stattdessen: Welt und Wahn. Fällt in Popsongs ein »You«, kann nur er gemeint sein. Der als Frau verkleidete Enzensberger nickt ihm verschwörerisch im Bahnabteil zu, er hat Sex mit Madonna und dem jungen Picasso schüttet er auf der Toilette eines Szeneclubs seinen Rotwein in den Schoß, weil er dessen Bilder nicht ausstehen kann.
Wie Melle solche Episoden der Manie in seinem Buch erzählt, das reicht an die ganz großen Künstler der Selbstschau heran. Bosse und seine Dramaturgin Gabriella Bußacker vertrauen darum ganz der sprachlichen Wucht der Vorlage. Was Joachim Meyerhoff auf der Bühne veranstaltet, verhilft dem Text zu einer denkwürdigen Weiterentwicklung bis hin zu einem wahren Psychomonument.
»Das heute Abend wird wohl etwas anstrengend«, warnt der Solitär gleich zu Beginn - und erntet dafür nur Kichern. Wirklich spürbar wird die Konsequenz dieses Satzes erst nach mehr als einer halben Stunde, als sich Meyerhoff im gedimmten Licht in Raserei steigert. Mit blutendem Gesicht stürmt er über die Rampe, crasht Partys, pöbelt wahllos in die erste Zuschauerreihe hinein, klappert Autokennzeichen auf versteckte Botschaften ab, macht mit einem eilig hereingeschobenen Kopiergerät etliche Bilder seiner Körperteile, heftet die Fetzen anschließend an eine durch eine Querstange ergänzte Leiter und bastelt sich dann auch noch halb nackt eine Dornenkrone aus Klebeband und Tischtennisbällen. Hält dieser Irre sich tatsächlich für den Messias?
Wie rasant der Fall vom hyperaktiven Schmerzensmann zum gelähmten Trauerkloß bei dieser Erkrankung gehen kann, das vollzieht sich hier abrupt. Es fühlt sich an, wie man es aus Zeichentrickfilmen kennt, in denen Hochgeschwindigkeitszüge ohne jedes Bremsmanöver zum Stillstand kommen und die in diesem Fall dennoch den Naturgesetzen unterworfenen Passagiere nach vorn katapultiert werden. Dieser Abend tut weh und führt zu Turbulenzen im Kopf.
Mit Meyerhoff ist dann auch die Phase unmittelbar nach dem Absturz in epischer Breite auszuhalten. Der Verrückte weiß gerade in diesen Zeiten sehr genau, dass er verrückt ist und was er inmitten seiner Gemütsgewitter alles angerichtet hat. Zu allem Überfluss treten dann Scham und Reue zur totalen inneren Leere. Von einem der Selbstmordversuche spricht Meyerhoff beinahe flüsternd, aber in Ausdruck und Tempo so genau komponiert, dass sich wahrscheinlich sekundenlang kein Zuhörer im Angesicht dieser schauspielerischen Brillanz traut, auch nur einmal Luft zu holen.
Dann bricht wie aus dem Nichts diese Panik aus: »Stuckrad-Barre, mein Jahrgang, hatte ein Jahr zuvor sein erstes Buch herausgebracht, dann kam Benjamin Lebert, noch ein Kind, und räumte mit einer Internatsgeschichte ab.« Wenn noch irgendwer das Genie des 1975 Geborenen entdecken sollte, dann werde es wirklich mal Zeit. Aber sowas von! Immer wieder streut Meyerhoff solche Textbausteine ein, in denen Melle sein Künstlersein reflektiert. Da drängt sich dann der unerhörte Verdacht auf, dieser Rastlose habe nur aufgrund seiner Krankheit diesen Beruf wählen und vier wahnwitzig gute Bücher schreiben können. Im ständigen Wechsel denkt es in einem: Ich will hier raus! Weiterspielen! Unerträglich! Jetzt darf das aber nicht schon enden!
Dabei kommt das Beste erst noch: Auf Meyerhoffs Befehl (»Da muss man sich halt auch mal helfen lassen«) rollt eine Entourage an Mitarbeitern ein hirnförmiges, schleimig anmutendes und nach Lösungsmittel stinkendes Riesending auf die Bühne. Irgendwann, es müssen viele Minuten gewesen sein, ist die Arbeit abgeschlossen und der sensible Künstler klettert im goldenen Anorak zu Gnails Barkleys Smash-Hit »Crazy« erst auf und dann in das Ungetüm.
Zur Wiener Premiere berichteten die Medien über einem Jubelorkan. In Berlin das gleiche Bild: stehende Ovationen, soweit das glücklich geschundene Auge reicht. Wie also erzählt man von sich als einem Idioten? Offen, ehrlich und ohne Drumherumgerede, das beschreibt Melle, und Meyerhoff muss dessen Schlusssätze nach diesem übermenschlichen Spiel nur noch erschöpft herunterleiern: »Ich mag mich wieder umbringen wollen, irgendwann. Dann werde ich dennoch weiterleben. Dann werden diese Zeilen wie ein Gebet sein.«
Nächste Vorstellungen am Wiener Akademietheater: 18. und 27. Juni
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