Schwarz-Weiß-Denken oben auf den Leninbergen

Wo Kohl und Honecker einander ähnelten: Ein persönlicher Rückblick auf den Altkanzler

  • Werner Micke
  • Lesedauer: 6 Min.

Erst kurz vor ihrem Tod erfuhr ich, dass ich mit der ersten Ehefrau von Helmut Kohl eine Zeitlang auf dieselbe Schule gegangen war - am Ende des Krieges, in Döbeln. Beide waren wir Flüchtlinge, Hannelore Renner aus Leipzig vor den Bomben, ich aus Breslau vor der vorrückenden Front.

Helmut Kohl in persona traf ich erstmals 1984 in Moskau. Juri Andropow war gestorben, und das pompöse Staatsbegräbnis wurde zu einem Gipfeltreffen von Politikern aus aller Welt. Honecker hatte auf seinem Zettel mehr als ein Dutzend Leute, mit denen er reden wollte, und ganz oben stand Kohl.

Dieses erste Treffen fand in einer Residenz auf den Leninbergen statt. Das Foyer war gedrängt voll Journalisten aus Ost und West. Der Kanzler erschien, ohne Gruß, das Stimmengewirr ebbte ab. Der alle überragende Kohl stand wie ein Pfahl. Ich versuchte vergeblich, ihm in die Augen zu blicken. Er verzog keine Miene, wechselte mit niemandem einen Blick oder gar ein Wort.

Eine kurze steife Begrüßung, als Honecker eintraf. Ganz anders die Atmosphäre nach knapp anderthalb Stunden: beide gelöst, in lockerem Gespräch. Ein gutes Omen für die Beziehungen beider Staaten? Ich grübelte, weshalb die beiden sich so gut zu verstehen schienen. Außer der beschwörenden Feststellung, nie wieder dürfe Krieg von deutschem Boden ausgehen, hatte es - der vereinbarten Mitteilung zufolge - kaum Annäherung in der Sache gegeben.

Erst langsam begann ich zu begreifen, worin sich die beiden ähnelten: in ihrer patriarchalischen, ja landesfürstlichen Grundhaltung, in ihrem politischen Schwarz-Weiß-Denken. Sie mussten unter vier Augen viel besser harmoniert haben, als die offizielle Meldung verriet. Ein Jahr später, bei Tschernenkos Begräbnis, trafen sie sich wieder, locker von Anfang an. Vereinbart wurde Honeckers Visite in Bonn; aber wegen Gorbatschows mehrfachem Njet kam die erst 1987 zustande.

Honeckers Begrüßung mit Fahne und Hymne erlebte ich dann als Durchbruch nach vierzig Jahren Spaltung. Bei der Vorstellung der Gäste in der Godesberger Redoute hatte der Protokollchef ein Blackout, ausgerechnet als der Gastgeber meine Hand ergriff. Honecker half aus: Das ist Micke vom »Neuen Deutschland«.

Mit Kohls Godesberger Rede kam die Bundesrepublik in der europäischen Realität an - später ein Makel für die Legende vom Kanzler der Einheit. Aber der Empfang für das DDR-Staatsoberhaupt konnte zwei Jahre später nicht ungeschehen gemacht werden. Schon gar nicht, indem Kohl untätig zusah, wie dem anderen mitgespielt wurde: wie der Todkranke ins Gefängnis musste, ehe er zum Sterben nach Chile emigrieren konnte.

Wären die beiden mutige, weitsichtige Politiker gewesen, hätten sie mit ihrem Treffen 1987 für alle Deutschen - und für ganz Europa - eine neue Zeit einleiten können. Dass Washington ein vereintes Deutschland akzeptieren würde, war bekannt. Dass Moskau dabei war, die Haltung in der deutschen Frage zu überdenken, wussten beide. Klar war zudem, dass die DDR sich übernommen hatte und bei unveränderter Fortsetzung ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik auf schwere Turbulenzen zusteuerte. Zu diesem Zeitpunkt gab es politisch für die DDR keine andere Chance als eine deutsche Perestroika, wirtschaftlich keine andere als Zusammenarbeit mit der BRD. Der Wille, Grundsätze für eine deutsche Konföderation zu vereinbaren - das hätte historisches Ergebnis des Treffens in Bonn werden können. Doch dazu wären aus anderem Holz geschnitzte Politiker nötig gewesen. Aber recht besehen handelte es sich trotz aller Unterschiede und Gegensätze um Leute gleichen Schlages, auf die Erhaltung der eigenen Macht und alles Bestehenden bedacht.

Zwei Jahre später waren beide am Ende: Wegen seines Unvermögens, nötige Modernisierungen in die Wege zu leiten, war Kohls Chance, 1990 die Bundestagswahl zu gewinnen, stark gesunken. Und Honecker hatte mit seinem Unwillen, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, in der DDR die Karre in den Graben gefahren. Doch nun bedeutete das Ende des einen für den anderen einen neuen Anfang. Kohl konnte seine Amtszeit um fast ein Jahrzehnt verlängern, weil er - sicher seine größte Leistung - begriff: Jetzt ist Zupacken angesagt, nicht Aussitzen. Erst war es wohl nur das Gespür, mit dem Einheitsthema die Wahl gewinnen zu können, das ihn zu rechter Zeit auf den rechten Dampfer steigen ließ.

Kohl packte also zu. Ohne Rücksicht auf Artikel 146 Grundgesetz schluckte die BRD ruck-zuck die DDR, die West-CDU die Ost-CDU samt aller Finanzen und auch noch die Bauernpartei. Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurden durchgepeitscht; der Osten von der Treuhand für die westliche Konkurrenz ausgeweidet; das Volkseigentum der Ostdeutschen zum größten Teil in westdeutschen Besitz überführt.

So jedenfalls wuchs nicht zusammen, was zusammen gehört hätte. Kohl exekutierte in der Richtung, die Adenauer schon 1952 vorgegeben hatte: Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. Die DDR und viele ihrer Bürger wurden in blindwütigem Antikommunismus kriminalisiert, Ossis erst mal von allen wichtigen Schalthebeln verdrängt. Vielen kam es vor, als lebten sie in einem besetzten Land. Ein Vierteljahrhundert später saßen zwar in Kanzleramt und Schloss Bellevue einstige DDR-Bürger, doch die an jedem 3. Oktober 1190 gepriesene Einheit lahmt weiter, der geschröpfte Osten hinkt, auch bei Löhnen und Renten, weit hinterher.

Was aber hätte aus einem demokratisch, in Augenhöhe geeinten Land werden können, wenn alle Deutschen vom ersten Tag an demokratisch, mit gleichen Rechten und Pflichten an seiner Gestaltung beteiligt worden wären! Und alle daran gemessen, welchen Beitrag sie leisten! Ich bin überzeugt, eines Tages wird die Geschichte die Fehlgriffe im Vereinigungsprozess klar benennen und auch Kohl auf den verdienten Platz stellen. Durch seine Haltung in der Parteispendenaffäre 1999 hat er den falschen Heiligenschein selbst unbeabsichtigt demontiert. Durch Vernichtung von Akten, Schweigen über Finanziers und Freikauf von Strafe für 300 000 Mark glaubte er die Hintergründe der Schmiergeldaktionen vernebeln zu können.

Doch vertan hat er damit auch die Chance, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen. So bleibt der Verdacht, der Kanzler der Einheit sei käuflich gewesen, vielleicht sogar durch eine fremde Macht. Parteifreund Franz Josef Strauß aus München hatte schon 1976 gelästert: Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles...

Am Ende hatte Kohl keine Familie und keine Freunde mehr - richtige hatte er vielleicht nie. Dafür, noch als Kanzler, dann weiter als Pensionär, eine Freundin in Berlin. Seine Haltung beim Freitod seiner Frau hat selbst treue Anhänger ernüchtert. Auch wer das Schmiergeld-Ehrenwort gelten ließ, verstand nicht, dass der 71-jährige Ruheständler die Schwerkranke in Oggersheim allein ließ. Ein abstruser Wahlkampf gegen rote Socken in Berlin war ihm wichtiger, als ihr beizustehen. Hätte er wenigstens an ihrem Todestag einmal zu Hause angerufen, hätte er gemerkt, dass etwas Schlimmes geschehen war.

Politik, heißt es, verderbe den Charakter. Sie kann auch - zumal gepaart mit ideologischem Wahn - Menschlichkeit zerstören. Helmut Kohl wird ein tragisches Beispiel dafür bleiben.

Werner Micke war stellvertretender Chefredakteur von »Neues Deutschland« für Außenpolitik.

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