Seid ungehorsam, seid konstruktiv
Warum Protest gegen die G20 und die herrschende Weltordnung eine neue Stufe erklimmen muss. Plädoyer für eine progressive Art, sich zu widersetzen
Aktuellen Umfragen zufolge will ein Drittel der Einwohnerschaft Hamburgs die Stadt zum G20-Gipfel verlassen, der im Frühsommer dort stattfindet. Das verwundert kaum: Denn wer ist schon verrückt genug, um in der Stadt zu bleiben, wenn Trump, Erdogan, Putin, Merkel und die Saudis auflaufen, mit 20.000 Polizeikräften und geschätzten 100.000 DemonstrantInnen auf der Straße?
Als der G20-Gipfel letztes Jahr im chinesischen Hangzhou stattfand, einer Stadt mit mehr als sechs Millionen EinwohnerInnen, fand China eine elegante Lösung für diese Thematik, die an die alten kommunistischen Zeiten erinnerte. Bereits Wochen vor dem G20-Gipfel, auf dem die Ratifizierung des Übereinkommens von Paris bekannt gegeben werden sollte, setzte die chinesische Regierung eine Feiertagswoche an und »ermutigte« die BürgerInnen zum Verlassen der Stadt.
Im Gegensatz zu den weisen ChinesInnen muss im Fall von Deutschland irgendein Idiot mit dem Finger auf die Landkarte gezeigt und ausgerufen haben: »Lass uns den nächsten G20 einfach in Hamburg machen!« Vor dem Hintergrund seiner ausgeprägten linken und aktivistischen Vorgeschichte ist die Hansestadt wohl der denkbar ungeeignetste Ort für einen störungsfreien Gipfel wie jenem in Hangzhou. Und es besteht kein Zweifel daran, dass der im Sommer stattfindende G20-Gipfel zum wichtigsten internationalen Event des Jahres werden könnte.
Erstens wird es nach dem von Donald Trump verkündeten Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen dieser G20-Gipfel sein, auf dem die schwierigen und wenig vorhersagbaren Neuverhandlungen stattfinden werden.
Zweitens rief Theresa May nach den Terroranschlägen in London zu einer globalen Regulierung des Internets auf. Schon bald folgten Angela Merkel und Emmanuel Macron diesem Aufruf. Die drei »AnführerInnen der freien Welt«, kürzer vielleicht »MMM«, möchten den G20 offenbar dazu nutzen, ein Schönes Neues Internet voranzutreiben.
Zu einer Art Kriegszone mutiert
Drittens sollten wir nicht vergessen, dass auch die Saudis nach Hamburg kommen werden. Und wo die Saudis sind, da sind Rüstungsdeals und auch der IS nicht weit. Kein Wunder also, dass Deutschland die Grenzkontrollen im Vorfeld des G20-Gipfels wieder aufgenommen hat und die USA planen, Predator-Drohnen in die Luft zu bringen, die üblicherweise nur in Kriegsgebieten zum Einsatz kommen.
Wenn Hamburg also zu einer Art Kriegszone mutiert, einer hoch militarisierten Stadt, die sich in einem in Europa nie dagewesenen »Ausnahmezustand« befindet, stellt sich für progressive Kräfte eine einzige Frage: Was tun?
Wenn vorangegangene Mobilisierungen und Proteste uns etwas gelehrt haben, dann, dass die bisherigen drei Hauptformen des Widerstands beim kommenden G20-Gipfel in Hamburg nicht länger ausreichen werden.
Die alten drei Hauptformen des Widerstands
Das vom Weltsozialforum inspirierte Modell eines Gegengipfels ist weiterhin von großer Bedeutung, um Erfahrungen und Ideen zu sammeln und um sich auszutauschen. Und gemeinsam mit DiEM25 werde ich mit größter Freude daran teilnehmen. Dennoch ist klar, dass er nicht die Kraft hat, den G20-Gipfel wirklich infrage zu stellen. Anders gesagt: Gegengipfel sind notwendig, aber sie verfügen nicht über die Wirkmacht als politisches Subjekt, um den G20 bzw. die dort verhandelten Vereinbarungen grundsätzlich zu verhindern.
Das Modell der Massenproteste wiederum ist ebenfalls vonnöten, um der Unzufriedenheit mit dem aktuellen globalen System symbolischen Ausdruck zu verleihen. Doch selbst wenn 150.000 Menschen auf die Straße gehen – wird diese massive Mobilisierung mehr erreichen können, als diese Unzufriedenheit öffentlich kundzutun? Wenn es den mehr als zehn Millionen Menschen, die im Februar 2003 zeitgleich in 600 Städten weltweit demonstrierten, nicht gelang, den Krieg zu stoppen, warum sollte ein Protest in Hamburg sagen wir mal gegen den Krieg in Libyen, Syrien oder dem Jemen – und sei er noch so groß – irgendeinen Unterschied bewirken?
Die Schlüsselfiguren unseres heutigen kranken Systems, das Kriege hervorbringt und im Endeffekt auch den IS, werden in Hamburg präsent sein: sowohl Theresa May als auch Donald Trump, aber auch die Saudis. Leider lassen sich Kriege nicht durch reinen Protest verhindern. Wir sind jedoch gespannt darauf, ob Trump, der seinen Besuch in Großbritannien aufgrund der Aussicht auf massive Proteste verschoben hat, seinen G20-Besuch in Hamburg ebenfalls aus der Sorge heraus abblasen wird, dass er ganz sicher nicht willkommen ist?
Erinnert Euch an Pasolinis Antwort
Schließlich bleibt noch die Frage des Modells gewaltsamer Proteste, die ebenfalls für das G20-Gipfeltreffen in Hamburg erwartet werden. Meiner Meinung nach ist die Gewalt, wie sie auf dem G20 erwartet wird, nichts anderes als das Gegenstück zur systemischen Gewalt, die das eigentliche Problem darstellt. Aber selbst, wenn diese Gewalt die Brutalität des Systems offenbart, reicht sie dennoch nicht aus, um die Machtverhältnisse grundsätzlich infrage zu stellen. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass sie von den Mainstream-Medien stets als etwas »Irrationales« dargestellt wird (und damit in Kontrast gesetzt wird zur »Rationalität« des Systems).
Wir sollten nicht vergessen, was Pier Paolo Pasolinis Antwort auf die Ereignisse vom Mai '68 war, als er sich nicht mit den revolutionären Studierenden solidarisierte, sondern mit der Polizei. Die wahren Opfer der Gesellschaft, so Pasolini, seien nicht die StudentInnen, sondern die Polizei, die Söhne von ProletarierInnen, die vom Mangel an Bildungschancen und aufgrund chronischer Arbeitslosigkeit zur Übernahme von Jobs gezwungen seien, die niemand sonst haben wolle.
Diese drei Formen des Widerstands, die wir 1999 in Seattle oder 2001 in Genua erleben konnten, waren von grundlegender Bedeutung für etwas, was in der post-operaistischen Philosophie »politische Subjektivierung« genannt werden sollte. Ähnlich wie in Seattle oder Genua oder jüngst auf dem Syntagma-Platz oder der Puerta del Sol erschaffen diese Massenproteste etwas, was der französische Philosoph Michel Foucault »Heterotopie« nennen würde. Wörtlich übersetzt »ein anderer Ort« oder weiter gefasst ein Raum des »Andersseins« oder auch die von Hakim Bey beschriebenen »Temporären Autonomen Zonen«. Diese Räume des Widerstands sind notwendigerweise Bestandteil aller Kämpfe, die uns noch bevorstehen.
Eine progressive, internationalistische Bewegung
Wir – die verrückt genug sind, aus allen möglichen Orten der Welt in eine Stadt zu kommen, in der Trump, Erdogan, Putin, Merkel und die Saudis sind, mitsamt Drohnen und 20.000 PolizistInnen – bilden bereits eine »Heterotopie«. Und wir müssen danach streben, zu den PionierInnen einer sich neu formierenden, progressiven und internationalistischen Bewegung zu gehören.
Das allein reicht jedoch nicht aus. Neben dem Ungehorsam benötigen wir etwas, das wir bei DiEM25 »konstruktiven Ungehorsam« nennen. Es reicht nicht aus, »Nein« zu sagen oder zu protestieren. Es reicht nicht aus, sich zu treffen und zu diskutieren, zu kritisieren und die Regeln mit Gewalt zu brechen. Was wir insbesondere brauchen, ist der konstruktive Teil des Ungehorsams.
Die Missachtung der neuen Weltordnung, die einerseits von Trump und den Saudis und andererseits von den »AnführerInnen der freien Welt« verkörpert wird (die, wie Theresa May bereits belegte, ebenfalls mit den Saudis unter einer Decke stecken), ist zwar nötig, aber nicht ausreichend. Für eine progressive und konstruktive Haltung muss der Ungehorsam begleitet werden von Gegenvorschlägen, die komplett ausgearbeitete Politikkonzepte als Alternative zu jenen umfassen, denen wir die Gefolgschaft verweigern. Das ist es, was DiEM25 am Abend des 7. Juli in Hamburg vorhat.
Srećko Horvat, Jahrgang 1983, ist Mitgründer der linken paneuropäischen Bewegung DiEM25. Der Philosoph und Autor aus Kroatien hat sich als Direktor des Subversive Festivals in Zagreb einen Namen gemacht. Von ihm sind unter anderem erschienen »Die Radikalität der Liebe« und zusammen mit Slavoj Žižek »Was will Europa?« (beide beim Laika-Verlag). Übersetzung aus dem Englischen: Sebastian Landsberger und Cornelia Gritzner für lingua•trans•fair
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