Bis zum Hals in der Jauche
Personalie
Mit manchen Passagen seiner Rede hätte er auch vor den Gegnern des G20-Gipfels in Hamburg punkten können. Stattdessen sprach der Dramatiker, Dichter und Prosaautor Franzobel am Mittwochabend zur Eröffnung des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt vor einem erlesenen Kreis von Literaturbetrieblern.
Wer im Irrglauben gekommen war, hier, am Wörthersee, sei die Welt noch heil, dem kippte der 50-Jährige einen Trog kapitalistischer Sauereien vor die Füße: Billiarden für Rüstung, aber kein Geld für Bildung, Missachtung von Klimaschutzabkommen, verhungernde Kinder und ersaufende Flüchtlinge, Korruption, Gier, Machtgeilheit und noch etliches mehr. Und was, so der Dichter, tun wir dagegen? Wir zucken mit den Achseln. Wie ist das menschenmöglich? Die Antwort hatte Franzobel, das Pult dank einer Bierflasche zum Stammtisch umdekorierend, postwendend parat: »Wir sind korrumpiert [...] von lauter unnötigem Krempel, der uns vermeintlich zur neuen Aristokratie erhebt, vergessen lässt, dass uns die Jauche bis zum Halse steht.«
In Hamburg wäre nun der Aufruf zum Aufruhr fällig gewesen. In Klagenfurt formulierte der Redner seinen Appell zum Widerstand - »gegen die Verdummung, Herzlosigkeit, Ignoranz, Lustfeindlichkeit, Engstirnigkeit, aber ebenso gegen die Verknechtung durch Absolutheits- und Wahrheitsalleinbeansprucher« - auf eigene Art: »Literatur ist Kampf!« Ein Appell, unzweifelhaft, auch an jene Autoren, die dieser Tage in Klagenfurt um die Wette lesen und deren größte Angst zuweilen die vor der Jury zu sein scheint.
1995 hat der gebürtige Oberösterreicher den Bachmann-Preis selbst gewonnen. Nachbarn seiner Eltern hätten damals zu seiner »tollen Karriere als Friseur« gratuliert - weil es im Heimatort einen Friseur namens Bachmann gab. Selbstredend weiß Franzobel um die arg begrenzte Reichweite von Büchern. Aber er weiß auch um die Furcht der Despoten vor dem geschriebenen Wort. Sein letzter Satz galt den heute in der Türkei inhaftierten Autoren.
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