G20: Welt der Widersprüche
Der Hamburger Alternativgipfel beratschlagte Wege hin zu mehr globaler Solidarität
Wer nur fünf Minuten zu spät kam, dem wurden sofort eine halbe Stunde Lohn abgezogen, schrieb der Schriftsteller Willie Bredel 1930 über die Maschinenfabrik Nagel&Kaemp. So streng geht es in den einstigen Fabrikhallen in Hamburger Stadtteil Winterhude nicht mehr zu. Heute prangt ein eckig umrandetes schwarzes »k« auf neongelbem Grund an den Außenmauern des Industriegebäudes. Denn aus der einstigen Fabrik Nagel&Kaemp ist die Spielstätte Kampnagel geworden.
Rund 2000 Menschen aus der ganzen Welt haben sich am Mittwoch und Donnerstag in diesen Hallen zum Alternativgipfel eingefunden. Sie stecken in insgesamt elf Diskussionsforen und Workshops die Köpfe zusammen, um zu diskutieren und zu beratschlagen, wie eine bessere Welt möglich gemacht werden kann.
Zahlreiche Stiftungen und Initiativen, unter anderem die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Heinrich-Böll-Stiftung, hatten zum »Gipfel für globale Solidarität« geladen. Das Treffen ist die globalisierungskritische Antwort auf den am Freitag und Samstag stattfindenden Gipfel der G20-Staats- und Regierungschefs in der Hansestadt. Zudem soll der Alternativgipfel »der Ort für die Inhalte« sein, wie eine Vertreterin der Interventionistischen Linken am Donnerstag sagte, und zusammen mit den Blockaden und Großdemonstrationen einen »Dreiklang des Protestes« bilden.
Solidarisch, international, antikapitalistisch
»Die G20 sind keine Lösungs- sondern eine Bewegungsform der Widersprüche«, drückt der Berliner Gesellschaftswissenschaftler Markus Wissen etwas dialektisch die Grundkritik der Protestierenden an dem G20-Treffen aus. Die Politik dieser 20 Staaten sei ein Teil des Problems, da sie die Widersprüche lediglich absichere und nicht aus der Welt schaffe. Ob nun die Widersprüche zwischen Arm und Reich, globalen Süden und globalen Norden, Regierten und Regierungen, Frau und Mann oder Natur und Mensch gemeint sind, die Bemängelung der Politik der G20 läuft stets auf eine Kritik des neoliberalen Kapitalismus hinaus.
Der indische Gewerkschafter Ashim Roy trägt an seinem hellblauen Jeanshemd einen Button der hiesigen Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. »Die G20 sind im Grunde nur Agenten der multinationalen Konzerne und helfen diesen mit ihrem Neoliberalismus, möglichst viel Profit zu machen«, sagt er. Roy ist nach Hamburg gekommen, um seinen noch recht jungen Gewerkschaftsverband NTUI vorzustellen. Ähnlich wie der DGB in Deutschland will der NTUI unabhängig von Parteien sein.
Den Schwerpunkt ihrer Gewerkschaftsarbeit setzen Roy und seine Mitstreiter auf den sogenannten informellen Sektor, also die meist kleinen Betriebe, in denen wenig aufgeschrieben wird und viel unter der Hand passiert. 90 Prozent aller Menschen in Indien arbeiten in solch weitgehend rechtsfreien Unternehmen. Häufig sind sie das eine Ende einer globalen Wertschöpfungskette sind, die bis in die Fußgängerzonen und Einkaufszentren der Industrieländer reicht.
»Wir wollen eine solidarische Weltwirtschaft«, fordern Silke Helfrich von der »Commons Strategie Group« und der Wiener Wissenschaftler Ulrich Brand am Mittwochmorgen gleich im Duett. Sie formulieren damit den Anspruch des Gegengipfels, nicht nur das Bestehende zu kritisieren, sondern auch Alternativen aufzuzeigen und zu diskutieren, mit welchen Strategien eine bessere Welt zu schaffen ist.
Dass es dringend Zeit ist, nach Alternativen zum Bestehenden zu suchen, liegt für viele Gipfelgegner auf der Hand. Zuweilen werden Parallelen zu der Zeit gesehen, als Willie Bredel sein Roman über die Maschinenfabrik Nagel&Kaemp schrieb. Damals wurden im Rahmen der Weltwirtschaftskrise die Nationalsozialisten immer stärker, bis sie 1933 die Macht übernahmen. »Der Kapitalismus zerstört sich nicht selbst, er zerstört erst mal alles andere«, warnt eine Aktivistin vom Balkan vor Rechtspopulisten und autokratischen Herrschern wie Donald Trump und Recep Tayyip Erdogan.
Doch wie sollen die Alternativen aussehen?
Der LINKE-Politiker Harald Wolf will ein solidarisches statt einem neoliberalen Europa. Für eine katalanische Aktivisten von »Barcelona en Comu« hingegen ist entscheidend, dass Feminismus ein entscheidender Bestandteil von Politik wird. Ihr geht es dabei weniger um Quoten, sondern grundsätzlich um die Art und Weise, wie Politik gemacht wird.
Zuweilen tauchen auf dem Alternativgipfel aber Widersprüche zwischen den Zielen der unterschiedlichen Aktivisten auf: Sieht ein Gewerkschafter zum Beispiel Wirtschaftswachstum als essentiell für höhere Löhne an, so wendet ein Ökologe und Wachstumskritiker ein, dass damit nur die »imperiale Lebensweise« gefördert und die Umwelt zerstört werde.
Offenbar ist aber nicht nur der solidarische Pol recht planlos. Der ägyptische Ökonom Samir Amin unterstellt am Ende des Alternativgipfels auch der herrschenden Gegenseite einen Mangel an Strategien. Der kroatische Philosoph Srecko Horvath sagt für dieses G20-Gipfeltreffen voraus, dass sich die Staats- und Regierungschef nur in einer Sache werden einigen können: nämlich, dass sie sich uneinig sind. Zu groß seien die Widersprüche innerhalb der Gruppe der Mächtigen.
Klein anfangen, groß denken
Eine Alternative zum neoliberalen Europa wurde indes vor zwei Jahren zerschlagen, wie der Wissenschaftler Ulrich Brand am Mittwoch erinnert. Am 5. Juli 2015 stimmten die Mehrheit in Griechenland in einem Referendum gegen weitere Sparmaßnahmen. Sie sagten »Oxi!« - »Nein«, doch am 13. Juli 2015 ging die von SYRIZA-geführte Regierung in Athen einen Kompromiss mit den Gläubiger-Institutionen ein und stimmte somit neuen Kürzungen und Privatisierungen zu.
Jemand der trotz dieser »Kehrtwende« von SYRIZA weitermacht, ist Achim von »Diktio«. Das griechische Netzwerk organisiert mitunter das City Plaza Hotel in Athen. Jahrelang stand das Gebäude leer, dann wurde das Hotel besetzt. Nun ist es ein Zufluchtsort für Menschen aus Syrien, Irak, Pakistan, Iran und Afghanistan.
Warum Achim weitermacht? »Unsere Zeit wird wieder kommen«, zeigte sich der bereits etwas ältere Aktivist auf dem Gegengipfel optimistisch. Seine Strategie lautet: »Im Kleinen anfangen und das Große, Transnationale dabei mitdenken«. Wie die Gipfelgegner schon 1999 bei den Protesten gegen das Treffen der Welthandelsorganisation WTO in Seattle wussten: »Act local, think global« – lokal handeln und global denken.
Wieder so ein Widerspruch, der gelöst werden will. Auf dass es diesmal klappt.
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