Nicht mitzuhassen ... bin ich da

Zbigniew Herbert: Gesammelte Gedichte in einem dicken Band

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Endlich liegt das lyrische Lebenswerk des polnischen Dichters Zbigniew Herbert (1924 - 1998) in einem Band vor. Er enthält sämtliche Gedichte, die Herbert in seine neun Lyrikbände aufgenommen hatte, mehr als hundert von ihnen erstmals in deutscher Übersetzung. Manche konnten einst aus Gründen der Zensur in den polnischen Originalausgaben nicht erscheinen, wurden in ihren deutschen Übersetzungen vor den erst nach seinem Tode möglichen Originalausgaben veröffentlicht. Ryszard Krynicki geht dieser europäischen Ungleichzeitigkeit in seiner Nachbemerkung minuziös nach. Michael Krüger setzt dem Freund in seinem Nachwort ein sehr persönliches Denkmal.

Die Gedichte des Bandes sind von verschiedenen Übersetzern ins Deutsche übertragen worden. Schön ist dabei die »Vereinigung« der beiden großen Wegbereiter polnischer Literatur in Deutschland, Karl Dedecius im Westen und Henryk Bereska aus der DDR. Nachzulesen und neu zu entdecken ist ein überwältigender lyrischer Kosmos, den der in europäischer Kultur gebildete, kritische und intellektuelle Dichter geschaffen hat.

In einem Prosagedicht befürchtet Herbert: »In der schwarzen Erde werden verstreute Laute von uns bleiben. Akzente über dem Nichts und dem Staub.« Ganz so gering wird der Nachlass auch auf Grund dieses Bandes nicht beachtet bleiben. Vor allem nicht dank des erst in der Mitte seines Schaffens in den Gedichten auftauchenden »Herrn Cogito«, dessen Mission Menschenmögliches fast übersteigt. Dennoch gilt ihm der mahnende Vers: »hüte dich dennoch vor Hochmut/ betrachte dein Narrengesicht im Spiegel/ und wiederhole: ich wurde berufen - gab’s denn nicht bessere/ hüte dich vor der Dürre des Herzens ...«. Herbert schließt »Herrn Cogitos Vermächtnis« mit dem poetischen Appell »bleib treu Geh«.

Wie sehr Herbert, der von einem Stipendiaten-Aufenthalt in Kalifornien desillusioniert zurückkehrte, in Europa zu Hause war, das er bereisen konnte, wie sehr er aus der europäischen Kultur seit der Antike als seinem selbstverständlichen lyrischen Fundus schöpfte, zeigen viele Gedichte. Das mythische Griechenland und die Renaissance Italiens vertiefen manch aktuellen Gedanken. »Die Alten Meister/ kamen ohne Namen aus.« In einem der späten Gedichte erinnerte sich Herbert an sein Jura-Studium: »Mein Professor der Gerichtsmedizin der alte Manczewicz/ verneigte sich wenn er die Leiche eines Selbstmörders aus dem Formalinteich holte/ und wollte um Vergebung bitten/ und öffnete dann mit geübter Hand den herrlichen Thorax«, um am Ende des »Scham« überschriebenen Gedichts zu Sophokles’ Antigone zu finden: »Darum - den Toten treu ihre Asche ehrend - verstehe ich/ den Zorn der Griechenprinzessin ihren verbissenen Widerstand/ sie hatte recht - ihr Bruder verdiente ein würdiges Begräbnis/ das Grabtuch der Erde sorgsam/ über die Augen geschoben.« Der Ausruf der Antigone »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da« steht als Ausdruck abendländischer Humanität über dem Werk dieses großen polnischen Europäers.

Zbigniew Herbert: Gesammelte Gedichte. Herausgegeben von Ryszard Krynicki. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Aus dem Polnischen von Henryk Bereska, Karl Dedecius, Renate Schmidgall, Klaus Staemmler und Oskar Jan Tauschinski. Suhrkamp, 680 S., geb., 49,95 €.

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