Zerrissener Alltag
Sieben Tage, sieben Nächte: Über die Türkei ein Jahr nach dem Putschversuch
Grüß deine Kollegin, wenn du sie siehst - das bekam Muzaffer Kaya vor wenigen Tagen in Berlin mit auf den Weg, bei der Premiere des Films »Türkei: Ringen um Demokratie«, der derzeit in der Arte-Mediathek zu sehen ist. Das ist nett, sagte der Historiker, nur werde er sie nicht sehen. Denn die Kollegin, Gül Köksal, eine der Personen, die Regisseur Imre Azem für seinen Film über Monate begleitete, kann nicht raus aus der Türkei und er nicht rein. Beide gehören zu den türkischen »Akademikern für den Frieden«, die schon ein halbes Jahr vor dem Putschversuch bei der türkischen Regierung in Ungnade fielen, weil sie mit ihrem Appell ein Ende der militärischen Operationen und der Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten gefordert hatten. Sie verloren, wie so viele andere, ihre Jobs. Die Architektin Köksal hat keinen gültigen Pass mehr und sitzt in der Türkei fest. Kaya, der wegen angeblicher »Propaganda für eine terroristische Organisation« 40 Tage in Untersuchungshaft verbrachte, gehört inzwischen zur wachsenden türkischen Exilgemeinde in Berlin.
Fatih Polat, Chefredakteur von »Evrensel«, einer der letzten unabhängigen Zeitungen, erinnert im Weddinger City Kino zunächst an die Kollegen im Gefängnis. Die meisten von denen, die er namentlich aufzählt, wurden noch deutlich früher festgenommen als Deniz Yücel und Meşale Tolu. Die Hälfte seiner Zeit, erzählt Polat im Film, verbringt er inzwischen am Gericht, die andere in der Redaktion.
Wie zerrissen das Land ist, machen schon ein paar Fotos aus dem Alltag in der Türkei sichtbar, die auf den folgenden Seiten zu sehen sind - vom friedlichen Marktgeschehen in Izmir bis zum vom Militär zerstörten kurdischen Cizre.
Politisch verläuft der Graben nicht nur zwischen Erdogan-Anhängern und Erdogan-Gegnern. Ein Jahr nach dem Putschversuch ist auch die große, kraftvolle Bewegung gespalten, die sich für eine demokratischere Türkei einsetzte. Neben den gewöhnlichen Gegensätzen und Widersprüchen innerhalb einer Opposition trennen die Einzelteile Landesgrenzen und Knastmauern.
Trotzdem. »Ich glaube an Gezi«, sagt Regisseur Azem. Das sei der Albtraum für Erdogan gewesen. »Ich habe Aufgaben, die muss ich machen. Anders kann ich gar nicht leben.« Das sagt Mücella Yapıcı, Architektin, Feministin und Mitorganisatorin der Gezi-Proteste. Die Wahrheit sagen, Widerstand leisten, an den Sieg glauben, mehr werden. »Es kann sein, dass es noch schlimmer wird«, aber »Kein Tyrann hat ewig geherrscht«. Was hoffnungsvoll klingen soll, klingt manchmal eher nach Durchhalteparole. Aber auch umgekehrt. Mit den Worten der Schriftstellerin Gönül Kıvılcım: »Alles ist absurd zur Zeit.«
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