Die schönste Einsamkeit

War ein Konzert für die G20-Teilnehmer ein »obszöner Missbrauch« von Kunst?

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist noch nicht lange her, da galt Goethe als Vorkämpfer einer sozialistischen Kultur. Und mancher meint heute, Bach sei linke Munition, und überhaupt dürfe man humanistisches Gut nicht den sogenannten (ominösen) Anderen überlassen. Über den Gebrauchswert von Kunst gibt es witzige Vorstellungen. Jüngst äußerte sich der Intendant des Hamburger Thalia Theaters, Joachim Lux. Er hatte das Konzert für die Staats- und Regierungschefs des G20-Gipfels - Beethovens 9. Sinfonie in der Elbphilharmonie - als »obszönen, ja pornografischen Missbrauch von Kunst« bezeichnet. Denn die hehre Musik erklinge für Leute, die »politisch offensiv das Gegenteil der ›Europa-Hymne‹ vertreten«. Zöge Lux aus seiner Bemerkung die Konsequenz fürs eigene Haus, stünden dort demnächst schwere Gesinnungskontrollen bevor.

Lux’ Wortmeldung offenbarte verständlichen Zorn - und ist doch töricht. Mochten die kritikwürdigen Politiker den Saal als Schuldgruppe betreten haben - mit jedem ersten Ton eines Konzerts beginnt Vereinzelung, Abirrung, Entrückung. Mit der Kunst ist jeder Mensch allein, noch bei größter Hymnik, noch bei rauschendstem Pathos, noch bei suggestivster Vereinnahmung. Beginnt eine Musik oder öffnet sich ein Vorhang, bist du aus der Welt. Wirst eingeschlossen oder wegkatapultiert in ein spezielles Erleben. Schönste Einsamkeit - Kunst gehört auf diese Weise allen. Es ist deshalb lächerlich, Klassik zu behandeln, als sei sie bevorzugter geistiger Besitz der sich fortschrittlich Wähnenden. Schiller ist so wenig links wie Büchner. Beethoven gehört jedem Mörder, Goethe jedem Idioten, van Gogh jedem Ignoranten. Das Edle steht auch jenem frei, der Lustigkeit verlangt statt Flammenschrift. Denn zum Mörder gehört neben der Strafe die Hoffnung: Einschluss sei verbindbar mit Einkehr.

Wir sind, letzten Endes und immer wieder - Nichtlegitimierte, Rettungsbedürftige. Kunst und Betrachter finden einander in der Suche nach etwas, das ihnen von der Wirklichkeit verweigert wurde. Lesend sind wir andere Menschen als in jenem späteren Moment, da wir ein Buch wieder aus der Hand legen. Wenn wir lesen, ist in uns alles möglich. Der kleine Herzraum, der uns fortwährend zu eng ist, hat plötzlich Platz für wünschbare Weiten. In jedem Leben und zu jeder Zeit verfestigt sich das Gefühl des Menschen, es ginge ihm mit besonders ungemilderter Schärfe Welt verloren. Die Welt des höheren Sinns. Die Welt der Bindungskräfte. Die Welt der Bedachtsamkeit. Die Welt der Rückbesinnungen. Die Welt des metaphysischen Trostes. Gegen solchen Weltverlust will der Mensch Welt schaffen - um sich selbst wieder zu verstehen. Nur was uns fehlt, macht uns schöpferisch. Daraus wächst der Impuls, die Kunst zu fragen. Ein Fragerecht, das keine ständische Einschränkung kennt.

Es geht bei der Kunst um das, was uns rettet - indem es das herrschende Denk- und Verhaltenssystem ignoriert, indem es einen »Gegenfrost« (Kierkegaard) bildet und radikal auf die Unverfügbarkeit des Ichs pocht. Heute leistet schon Widerstand, wer den Mut hat, inmitten des allgewaltigen Marktes heiter zur Seite zu treten und daseinsbejahend zu vereinsamen. Kunst hilft, ein Quäntchen abschottungsfreudiger und abschottungsfähiger zu sein gegen die Oberflächlichkeit und Beflissenheit der jeweils bestehenden politischen, gesellschaftlichen Umgangsformen. Man darf bei den G20-Teilnehmern ob der Läuterungskräfte äußerst skeptisch sein, aber möge niemand unkundig tun: Wo diese Leute ihr Gesicht verlieren, ist es immer auch unseres.

Also: Voll Erhabenheit ist der Traum der Kunst von sich selbst. Natürlich bleibt er unerfüllt. Im Theater zum Beispiel gehen nach der Vorstellung die Lichter wieder an, die Zuschauer gehen in die Kneipe, die Schauspieler in ihre Kantine. Jeder ist wieder der Blödmann, der er vorher war. Wort und Wirklichkeit bilden alsbald den altgewohnten, den uralt gewöhnlichen Widerspruch, und die Realität entspricht schon am Tag nach dem Theaterbesuch nicht mehr dem hohen Text, dem edlen Geist. Alles vergeblich? Nein. Das Werk, mit dem ein Künstler uns übersteigt, ist trotz aller Ohnmacht ein Sieg. Eine Möglichkeit. Und wer nur immer den unbedingten Gleichklang von Wort und Tat einfordert, der verleitet den Menschen dazu, sich alle Maßstäbe kleinzureden - um sie erreichbar zu halten. Nein, das Wort muss uns übersteigen dürfen. Es gehört zum Genuss von Kunst, sich groß zu wähnen, und es ist eine Kunst, dabei nicht groß zu tun.

Wir leben in einer bedrohlichen Zeit. Terroranschläge. Erschreckende Autokraten - von Assad über Erdoğan bis Putin - regieren. Da sind der Brexit und die tiefe Krise der Europäischen Union. Soziale Spannungen und Ängste allerorten, Kriege und Bürgerkriege, unzählige Menschen auf der Flucht, eine Linke weltweit auf dem Schlauch. Muss die Kunst angesichts dieses Weltzustandes ihre Stimme nicht verstärkt in einem politischen Sinne erheben? Pur, direkt, ja: klassenkämpferisch? Mag sein, aber ...

Im Juli 1967 sollte Theodor W. Adorno in der Freien Universität Westberlin über Goethe sprechen. Der studentische Kampf gegen den reaktionären Staat hatte begonnen, die FU-Studenten bedrängten Adorno, gefälligst nicht über Klassizismus, sondern über die politische Situation zu reden. Er weigerte sich. Erst nach Tumulten konnte er seinen Vortrag halten. Der österreichische Philosoph Paul Konrad Lissmann hat in seiner Rede zu den jüngsten Salzburger Festspielen dieses Beispiel Adorno benannt: Der war nicht bereit, lediglich eine Gesinnung zu demonstrieren; Goethes »Iphigenie« war ihm durchaus ein Kommentar zur Zeit - der freilich Dimensionen freilegte, die der tagespolitische Aktionismus ausblenden musste. Und so habe Adorno das Beglückende der Kunst unterstrichen: ihren Anspruch auf Selbstgesetzgebung. Das Faszinierende, Verstörende bestehe darin, dass Kunst alles sein könne, was man ihr zuschreibe - und doch gehe sie darin nicht auf. Sei sie politische Propaganda, Unterhaltung der Massen oder elitäre Abschottung: Sie könne alle anregenden und aufregenden, langweiligen und spannenden, dummen und dreisten Formen annehmen - und bleibe doch mehr als eine Nutzanwendung. Kunst ist der Beleg, so Lissmann, »dass dem Menschen - diesem fehlerhaften, eitlen, grausamen und nicht besonders intelligenten Wesen - etwas nahezu Vollkommenes gelingen kann, das keiner weiteren Rechtfertigung bedarf«. Das gilt für die Bühne und für das Publikum.

Unter Gläubigen hält die Kunst es mit dem Unglauben, unter Ungläubigen mit dem Glauben. Sie ist wahr, obwohl sie nichts beweist. Der Satz, auf dem die Arbeit aller ernsten Wissenschaft beruht, nämlich: dass A nicht zugleich Nicht-A sein kann - für die Kunst gilt er nicht. Zwei Seelen wohnen, ach ... Du bist gut und böse, folgst Engeln und dem Teufel, hältst Moral hoch und kannst dich auch sehr tief ducken. Und um verschiedener Meinung zu sein, bedarf es nicht mehrerer Personen. »Quod erat demonstrandum«, sagt die Wissenschaft. »Wer’s glaubt, zahlt einen Taler«, sagt die Kunst.

Die Geschichte der Wissenschaften ist eine Geschichte der überwundenen Wahrheiten. Kunst aber kennt den Untergang ihrer Wahrheit nicht. Weil diese Wahrheit jenseits von Wahr und Falsch, von Versuch und Irrtum liegt. Ödipus und Hamlet bleiben akute Wesen. Sophokles und Shakespeare sind Gegenwartsautoren - womit einfach nur gesagt ist, dass es in der Kunst keinen Fortschritt gibt. Das längst vergangene Alte ist das ewig Junge. Verändere! - aber wisse um die Grenzen, die der Existenz grundsätzlich eingeschrieben bleiben. Halt ein! - aber wisse um die Horizonte, die alle Existenz, sie zu verändern, doch offenhalten.

Es war und ist was faul im Staate, auch wenn der nicht Dänemark heißt. Das klingt auf den ersten Zugriff so, als könne man aus dem Stück »Hamlet« etwas lernen. Nein, man lernt nichts, aber man kann etwas damit anfangen. Das ist ein großer Unterschied. Von Kunst hat man nichts. Aber man hat sich selbst. Für eine kostbare kurze Zeit, unter der Leselampe, im Theater, im Konzert, vor einem Bild. Wenn einem diese Kostbarkeit ins Gemüt greift, hat die Welt draußen schon verloren. Vielleicht. Das ist der erste Schritt, um ihr beizukommen.

Kurzfristige, gar unmittelbare Wirkungen sind von Kunst nicht zu erwarten. Aber man möge sich nie darin täuschen, was möglich ist. Der Stasimann Wiesler im gleichnistiefen Film »Das Leben der Anderen« wird bei seiner abgefeimten Abhörarbeit immer wieder - unfreiwillig - Ohrenzeuge einer Klavier-»Sonate vom guten Menschen«, das rührt ihn, das weicht ihn auf, das verändert ihn. Reiner Kunze hat das Wunder Kunst im Gedicht »Nach einem Cembalokonzert« berückend erfasst: »Im gehör / feingesponnnes silber, das mit der Zeit/ schwarz werden wird // Eines tages aber wird die seele / an schütterer stelle / nicht reißen«.

Herrschende in die Konzerte! Uniformierte in die Theater! Parteifunktionäre in die Galerien!

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