»Zu ängstlich« beim Tramausbau
Naturfreunde werfen Senat eine zögerliche Haltung bei der Verkehrswende vor
»Wenn das Tempo beim Ausbau der Straßenbahn so fortgeführt wird, wie bisher angekündigt, werden wir erst im Jahr 2070 ein Netz haben, wie wir es für sinnvoll halten«, sagt Uwe Hiksch. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Umweltverbands Naturfreunde Berlin. »Wir werden ausgebremst wie die Radfahrer.« Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) habe wohl den Eindruck, er müsse »bei der Verkehrswende zurückrudern, um seine Wählerinnen und Wähler zu beruhigen«, vermutet Hiksch.
Dass an der Vermutung etwas dran sein könnte, zeigt eine Posse aus der vergangenen Woche. Müller hatte Anwohner des Tempelhofer Schulenburgrings in einem Schreiben nahegelegt, ihren Unmut über weggefallene Parkplätze der zuständigen Bezirksstadträtin Christiane Heiß (Grüne) direkt zu übermitteln. In dem Schreiben zu dieser »überzogenen Maßnahme« fand sich auch deren dienstliche Telefonnummer. Hintergrund der Maßnahme ist die Freigabe der Einbahnstraße für Radfahrer in beide Richtungen. Die wegfallenden Parkplätze dienen der Verkehrssicherheit. »Wenn Sie, sehr geehrter Herr Müller, sich nun öffentlich gegen ein die Verkehrssicherheit förderndes Vorgehen stellen, fragen wir uns, wie Sie Ihr Ziel erreichen wollen, dass Berlin Fahrradmetropole wird«, entgegnete das »Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg« in einem Offenen Brief.
Auch die neue Diskussion über mögliche U-Bahnverlängerungen in der Hauptstadt sei ein Versuch, den Tramausbau auszubremsen, heißt es bei den Naturfreunden. »Ich kann mit dem gleichen Geld 60 Kilometer Straßenbahn bauen oder gerade einmal fünf Kilometer U-Bahn«, gibt Hiksch zu bedenken.
Drei Neubaustrecken mit zusammen 5,6 Kilometern Länge sollen nach aktuellen Senatsplänen bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2021 fertiggestellt sein. Die entsprechenden Planfeststellungsverfahren sollen im Herbst beginnen. Dann soll laut Koalitionsvertrag der Bau weiterer 23 Schienenkilometer auf fünf Strecken beginnen. Weitere Linien, unter anderem entlang der Sonnenallee und der Wollankstraße, sollen ab 2026 gebaut werden.
»Die Koalitionsvereinbarung ist in punkto Straßenbahn die Beste, die es in den letzten 50 Jahren gab«, sagt Hiksch. »Wenn man Berlin als Straßenbahnstadt entwickeln will, reicht das aber nicht.« Zusammen mit Antje Henning und Frank Goyke hat er für die Naturfreunde ein 24-seitiges Konzeptpapier entworfen, in dem auch für den Westteil Berlins ein dichtes Netz vorgeschlagen wird. Vom S-Bahnhof Grunewald bis auf den Kurfürstendamm, von Tempelhof über Steglitz und Wilmersdorf nach Tiergarten, auf der Kantstraße und Heerstraße, von Teltow dem Kanal entlang und weiter bis nach Kreuzberg: die sieben vorgeschlagenen Korridore sollen die gesamte Stadt verbinden.
Auch den Boulevard Unter den Linden sollen Gleise zieren. »Und zwar aus ästhetischen Gründen«, sagt Antje Henning. Es gehe um Stadtentwicklung und die Gestaltung des Straßenraums. »Ziel ist die Demokratisierung des öffentlichen Raums«, so Henning. Die Vorherrschaft des Autos soll gebrochen werden. Gerade auf die Autoschneisen der Stadt gehören nach Ansicht der Naturfreunde Straßenbahnen. »Das dient der Entschleunigung und Verkehrsberuhigung«, ist Henning überzeugt. Mit Rasengleisen entstünden neue »Miniaturgrünzüge«, der Mittelstreifen der Osloer und Seestraße sei ein Paradebeispiel.
»Berlin war einst Vorreiter der Straßenbahn«, sagt Frank Goyke. Bei Gründung der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) im Jahr 1929 wurden auf einem Streckennetz von 632 Kilometern 930 Millionen Fahrgäste befördert. Zum Vergleich: 2016 waren 194 Millionen Menschen auf 190 Kilometern Tramnetz unterwegs.
100 bis 200 Millionen Euro müsste der Senat jährlich in die Hand nehmen, um das Konzept der Naturfreunde umzusetzen. Bisher sind 60 Millionen Euro pro Jahr eingeplant. »Wenn man europaweit sucht, findet man auch genug Planer für die Umsetzung«, ist Hiksch überzeugt.
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