Streit spitzt sich zu: Türkischer Botschafter einbestellt

Außenminister Gabriel bricht Urlaub ab / Linkspartei-Vorsitzende Kipping fordert Bruch mit Erdogan / Menschenrechtler verlangen mehr Druck auf Ankara

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Berlin. Menschenrechtler pochen auf die sofortige Freilassung der in der Türkei inhaftierten Mitarbeiter von Amnesty International und fordern stärkeren internationalen Druck auf die Staatsführung von Recep Tayyip Erdogan. Nun spitzt sich das diplomatische Ringen um die Menschenrechtler zu.

Das Auswärtige Amt hat am Mittwoch den türkischen Botschafter in Berlin einbestellt. Außenamtssprecher Martin Schäfer sagte, es sei notwendig, dass die türkische Regierung die »glasklaren Ansagen« der Bundesregierung »ohne Umwege« und »unmissverständlich« erhalte. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) unterbreche wegen des Falls seinen Urlaub und kehre nach Berlin zurück.

Die Vorsitzende der Linkspartei Katja Kipping hat die Bundesregierung zum Bruch mit der Türkei aufgefordert. »Ein Partner, der deine Staatsbürgerinnen und -bürger quasi als Geiseln inhaftiert und Besuchsverbote für deine Parlamentarier ausspricht, kann kein Partner mehr sein«, erklärte Kipping am Mittwoch in Berlin.

Der deutsche Amnesty-Generalsekretär Markus Beeko hatte zuvor den Einsatz der internationalen Gemeinschaft für die »sofortige und bedingungslose Freilassung« der in Untersuchunghaft genommenen Menschenrechtsaktivisten gefordert. Zwar hätten unter anderen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und das US-Außenministerium die Verhaftungen verurteilt, sagte Beeko am Mittwoch im »Morgenmagazin« des ZDF. Doch gebe es noch »eine Vielzahl von Instrumenten«, um den Druck auf die Türkei zu erhöhen.

Als Beispiele nannte Beeko, die Inhaftierungen zum Thema in internationalen Gremien wie dem UN-Menschenrechtsausschuss und dem Europarat zu machen. »Glaubwürdige und entschlossene Signale« seien notwendig.

Kanzlerin Merkel hatte die Inhaftierung des Deutschen Peter Steudtner und fünf weiterer Menschenrechtsaktivisten als »absolut ungerechtfertigt« bezeichnet. »Wir werden seitens der Bundesregierung alles tun, auf allen Ebenen, um seine Freilassung zu erwirken«, sagte Merkel.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat die Inhaftierung der Menschenrechtler in der Türkei als »politisch motiviert« kritisiert. Für die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, wonach die Aktivisten eine Terrororganisation unterstützt haben sollen, gebe es »keine Spur eines Beweises«, teilte Human Rights Watch in der Nacht zu Mittwoch mit.

»Das hat nichts mit Justiz zu tun: Es ist ein Vorwand, legitime Menschenrechtsarbeit in der Türkei zu zerschlagen. Das Gericht, das Rechte und die Rechtsstaatlichkeit aufrechterhalten sollte, war bereit, bei dieser Scharade mitzumachen«, erklärte HRW.

Die türkischen Behörden hatten am Dienstag Untersuchungshaft für die sechs Menschenrechtler angeordnet. Neben Steudtner ist auch die türkische Direktorin von Amnesty International, Idil Eser, unter den Inhaftierten. Die türkischen Behörden werfen den Aktivisten die »Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation« vor.

Nach der Bundesregierung verurteilten auch die USA am Dienstag die Festnahmen scharf. »Die Vereinigten Staaten verurteilen die Festnahme von sechs respektierten Menschenrechtlern und verlangen ihre sofortige Freilassung«, sagte die Sprecherin des US-Außenministeriums, Heather Nauert, in Washington. Strafverfolgungen wie diese, mit nur wenigen Beweisen und wenig Transparenz, würden die Reputation der Türkei als Rechtsstaat aushöhlen, sagte Nauert.

Welt24 legt im Fall Yücel Verfassungsbeschwerde in Türkei ein

Die Welt24 GmbH hat derweil in der Türkei Verfassungsbeschwerde gegen die Untersuchungshaft für ihren Korrespondenten Deniz Yücel eingelegt. Das Unternehmen begründet den Schritt vom Dienstag mit der fortdauernden Inhaftierung und der damit einhergehenden Verletzung der Pressefreiheit des Verlags.

»Wir werden alle rechtlichen Mittel ausschöpfen, die uns zur Verfügung stehen, um die Berichterstattungsfreiheit unseres Korrespondenten wie auch des Verlags zu verteidigen«, sagte die Geschäftsführerin der Welt24 GmbH, Stephanie Caspar. Die Vorwürfe gegen Yücel nannte sie abwegig. Der Journalist war im Februar unter Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft genommen worden. Auch die Bundesregierung fordert seine Freilassung.

Neben Yücel ist auch die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu Corlu weiter wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.

Im Zusammenhang mit dem Putschversuch vor einem Jahr sind nach Erkenntnissen der Bundesregierung bislang 22 deutsche Staatsbürger in der Türkei festgenommen worden. Das geht aus einer Antwort des Auswärtigen Amtes auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Özcan Mutlu hervor. 13 Betroffene wurden demnach wieder aus der Haft oder dem Polizeigewahrsam entlassen, neun seien weiter inhaftiert.

Deutsche Diplomaten in der Türkei wollen Steudtner baldmöglichst erneut besuchen. Ein weiterer Besuch sei bereits beantragt worden, als sich Steudtner noch in Polizeigewahrsam befand, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. Mitarbeiterinnen des Generalkonsulats in Istanbul hatten Steudtner bereits einen Tag nach seiner Festnahme vor knapp zwei Wochen besucht. Agenturen/nd

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