Das Fukushima der Autobranche
Autokartell? Es ist schlimmer: Tom Strohschneider über potenziell tödliche Profitinteressen und eine Politik, die sich von ihren Lobbyfesseln befreien muss
Eine der beliebtesten Erzählungen vom Kapitalismus geht etwa so: Wenn nur möglichst alles dem freien Spiel der Wettbewerbskräfte unterworfen ist, finden Angebot und Nachfrage auf einer bunten Blumenwiese namens Markt fröhlich zusammen. Das soll dann auch für die Ware Arbeitskraft gelten. Oder für die Innovation. Und natürlich immer für den Fortschritt. Am Ende gewinnt das große »Wir«.
Die Wahrheit sieht anders auch. Und wer darüber am Beispiel des Abgasskandals und der Geheimplanwirtschaft der Autokonzerne nachdenkt, kann nicht bei zurückhaltenden Überlegungen halt machen: Ist nicht die Frage berechtigt, wie viele Menschen aufgrund von Schadstoffen in der Stadtluft gestorben sind, weil Unternehmen die Minderung der Emissionen zu Gunsten ihrer Profite umgangen haben? Rund 38.000 sind es weltweit laut einer Hochrechnung wegen nicht eingehaltener Abgasgrenzwerte bei Dieselfahrzeugen allein 2015 gewesen.
Und müsste man nicht ebenso fragen, wie viel Verantwortung eine Politik dafür trägt, die als Handlanger der Branche zu bezeichnen noch weit untertrieben ist? Eine lobbykritische Organisation hat einmal sinngemäß formuliert, es sei in Deutschland Staatsräson, die Autokonzerne zu schützen. Die Argumente, die dafür vorgebracht werden, zielen auf die Zahl der Jobs, die hierzulande mit der Branche in Verbindung stehen. Sie zielen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes. Sie knüpfen an eine Kultur an, die in der Individualmobilität das Hochamt der Freiheit des Einzelnen sieht. Es ist eine Staatsräson der 1970er Jahre. Eine Räson, die genau das nicht ist: Vernunft und Einsicht.
Dass es mit der Mobilität nicht so weitergeht wie in den vergangenen Jahrzehnten eines erdölgetriebenen, von der Autoindustrie mitbestimmten Kapitalismusmodells, muss man heute eigentlich niemandem mehr erklären. Gründe gibt es von der Frage des Umweltschutzes angefangen über die der Stadtplanung bis zu den vielen Toten, verursacht von einer Fortbewegungsart, zu der es längst Alternativen geben könnte. Und damit ist nicht bloß die Ersetzung des Ganzen durch einen anderen Antrieb gemeint. Sondern eine wirklich andere Art, sich fortzubewegen. Kollektiv, ökologisch, bedarfsgerecht. Und na klar, wenn es denn sein muss, auch einmal im offenen Wagen mit lauter Musik und Spaß dabei.
Der Punkt ist, und damit sind wir wieder bei der großen, falschen Erzählung vom Kapitalismus: Obwohl das viele Menschen wollen, obwohl es demokratisch legitimierte Entscheidungen in diese Richtung gibt, obwohl es die Politik über Reglementierungen vorgibt – eine Geheimplanwirtschaft der Konzerne unterläuft den »Plan«. Denn der besteht ja nicht in Tonnenvorgaben irgendeiner autoritären Bürokratie, sondern ist das Resultat eines – klar: oft zu langsamen – Prozesses öffentlicher Aushandlung. Weniger Schadstoffe, mehr Umweltschutz, mehr Sicherheit, weniger Bolidenkultur. Das Problem ist also nicht, wie viel Plan im Kapitalismus herrscht, sondern ob es ein demokratisch vereinbarter ist, also einer, der unter dem Strich allen zugute kommt und alle, auch die Autobauer selbst, mitnimmt – oder ob ein krimineller Plan im Interesse weniger verfolgt wird, also einer, der nicht einmal die Beschäftigten der Branche schützt.
Was wir gerade erleben, müsste das Fukushima der Autoindustrie sein – der Punkt, an dem endlich die Reißleine gezogen wird. Es gibt keine überzeugenden Argumente, dies nicht zu tun. Aber es gibt weiterhin viele schlechte Gründe, weshalb damit nicht zu rechnen ist. Die lobbyistische Verschränkung zwischen Politik und Konzernen gehört dazu, die horrenden Parteispenden aus der Branche an einzelne Parteien, die ständigen Besuche der Konzernmanager und Verbandslobbyisten, die oft genug früher selbst einmal Minister oder ähnliches waren.
Es wird in diesem Land gern einmal darüber gelacht, wenn eine Partei den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor bis 2030 fordert oder über Benzinpreise den Druck erhöhen will, auf andere Verkehrsmittel umzusteigen. In Wahrheit sind jene, die auf eine radikale Wende im Verkehr drängen, die eigentlich Vernünftigen. Dass bei einem solchen Prozess nicht nur ökologische, sondern auch soziale und industriepolitische Belange Berücksichtigung finden müssen, ist völlig klar. Völlig klar ist aber auch, dass das Hoffen darauf, die Autokonzerne könnten hier freiwillig im Interesse der Allgemeinheit mitziehen, vergeblich ist.
Mehr noch: Was da an krimineller Energie zum Vorschein kommt, macht Überlegungen notwendig, wie sich die Res publica, die öffentliche Sache, hier künftig wieder wirksam gegen die Logik des Kapitals durchsetzen kann, das bei der Aussicht auf Profit eben nicht nur kühn wird, wie es P.J. Dunning schon 1860 formuliert hat, sondern auch »alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß stampft«. Anfangen müsste man dabei in Wolfsburg, wo »der Staat« Anteilseigner ist. Und man dürfte bei den anderen Konzernen nicht zurückhaltender sein, nötigenfalls unter Eingriff in die Eigentumsrechte. Das Grundgesetz sieht hier sogar eine Verpflichtung, »dem Wohle der Allgemeinheit« zu dienen. Was die Autokonzerne tun, dient dem nicht. Es dient nicht einmal den Unternehmen.
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