Die Neugier der Welt
Zum Tod der französischen Schauspielerin Jeanne Moreau
Eine Frau geht durch die Nacht - an den Rändern Mailands. Als suche sie einzig Häuser, die auf Absturzstellen gebaut sind. »La Notte« von Michelangelo Antonioni. Lidia besucht Orte ihrer einst glücklichen Ehe. Das Empfinden verwandelt alles in Ruinen. Seltsam: Der Rivalin ihres Ehemannes (Marcello Mastroianni) wird sie in dieser Nacht wie eine Vertraute entgegenblicken. Im todtiefen Ende ihrer Liebe ist diese Frau von einer erschütternden Gnadefähigkeit. Jeanne Moreau grandios: Im Moment, da ihr genommen wird, scheint sie zu geben.
Michelangelo Antonioni hat nach diesem Film gesagt, die Moreau sei für ihn die »Neugier der Welt«. Neugier? Mit diesem Mund, der rigoros auf einen Hauch Traurigkeit und Unglücksgewissheit zu bestehen scheint? Das, was der Regisseur als Neugier bezeichnet, ist der Mut zu Wegen, auf denen alles nur seinen falschen Lauf nehmen kann. Jeanne Moreaus Kunst bestand in der Art, wie Frauen in der Sicherheitszone zwischen Wunsch und Erfüllung eine überwältigende Anmut offenbaren. Großes Schauspiel: Zwischen dem, was ein Mensch wahrnimmt und will, und dem, was ist, gibt es keine Übereinstimmung - so, wie der Sinn einer Handlung, einer Idee oder einer Existenz nicht jene Wahrheit aufklärt, die hinter allem liegt. Moreaus Schönheit schaut gewissermaßen nach vorn, dorthin, wo die Erfahrungen einverstanden sind, sich zu wiederholen, vor allem die Enttäuschung. Das macht auf eine unheimliche Weise heiter. Manchmal ist die Moreau nackt, dann wieder trägt sie ein Kopftuch - denn immer ist ein Wind bei der Arbeit, die Welt noch ein wenig leerer zu fegen.
Die Schauspielerin,1928 geboren, war ein Kind des Pariser Montmartre. Der Vater Kneipier, die Mutter Tänzerin mit Netzstrümpfen und Federboa. Das Umfeld: sinnlicher Sumpf und billiger Rausch. In einer Ecke sitzt Jeanne und liest Anouilhs »Antigone«. Sie wird Theater bei Jean Vilar spielen, glänzt früh auf der Bühne (und im Film) als Partnerin von Gérard Philipe. Als die »Nouvelle Vague« das Kino eroberte, diese so ganz andere Montage, diese moderne Assoziationskraft, die traditionelle Erzählweisen aufhob, gehörte die Moreau zu den prägenden Gesichtern; festlich, lasziv, skandalös.
Geboren wurde damals der französische Film, dessen Kamera mit durchstoßender Absicht auf die Dinge zuging: suchend nach Empfindungs- und Bewusstseinsweiten hinter dem Abbild. Die Moreau wurde zur Schlüsselspielerin des Verschlüsselten, aber sie bezauberte in der neuen Ästhetik durch uralte Wahrhaftigkeit: Melancholie will nicht begrübelt, sie will ertastet und erseufzt sein. Peter Brook, Joseph Losey, Luis Bunuel, Rainer Maria Fassbinder, Elia Kazan, John Frankenheimer, Francois Truffaut, Wim Wenders, Orson Welles, Theo Angelopoulos - die Namen ihrer Regisseure ergeben ein Lexikon großer Kunst.
In »Fahrstuhl zum Schafott« erklingt Miles Davis, und die Moreau als frustrierte Möchtegern-Witwe durchstreift nervös Paris. Überhaupt: eine Bewegungsdiva. Schönes Glänzen auf dem Asphalt der Unheimlichkeit. Das Klacken der Absätze auf dem Abgrundsboulevard. In Louis Malles »Irrlicht« schlendert sie mit einem alten Freund über einen Pariser Markt, und sie wird ihn gleich gegen die Grobheit oberflächlicher Partygäste verteidigen. Diesen ehemaligen Alkoholiker, gezeichnet vom Entzug. Sie flammt in Anteilnahme, sie macht ihm Mut - und sie weiß doch ganz genau, dass er seinem Leben bald ein Ende setzen wird. Da ist sie wieder, diese Schönheit, die sich leidenschaftlich laut oder leise ins Verhängnis mischt. Das Leben löst nichts, und der Tod erlöst nicht. Der Schmerz quält, aber im Elend, nichts retten zu können, wächst Kraft zur Ehrlichkeit.
Nun ist Jeanne Moreau, die auch Regisseurin, Produzentin, Sängerin war, im Alter von 89 Jahren in Paris gestorben.
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