Das langsame Verschwinden des Ostens
In den Wahlprogrammen der meisten Parteien spielen die »neuen Länder« keine besondere Rolle mehr
Juni 2016, die Bundestagswahl ist noch weit. Im Berliner Willy-Brandt-Haus treffen sich Sozialdemokraten um das 20-jährige Bestehen des »Forums Ostdeutschland« zu feiern. Mit Durchhalteparolen: Das Forum sei weiterhin nötig, man wolle sich weiterhin für ein besonderes Engagement der SPD für die neuen Länder einsetzen. »Um unsere Region kümmern«, nennt das Manuela Schwesig, damals noch Familienministerin.
Ein Jahr später, längst ist Wahlkampf, hört man vom Forum nichts mehr. Die letzte Wortmeldung stammt aus dem November 2016, damals hatte sich die Große Koalition gerade auf etwas geeinigt, das als Rentenangleichung bezeichnet wird. Ab 2025 sollen die Bezüge in Ost und West nicht mehr nach unterschiedlichen Maßstäben berechnet werden. 35 Jahre werden dann seit der »Einheit« vergangen sein.
Der »Soli« wird oft mit dem Solidarpakt in einem Atemzug genannt - es handelt sich aber um grundverschiedene Dinge: Die Sonderabgabe, die derzeit 5,5 Prozent der Einkommen-, Kapitalertrag- und Körperschaftsteuer beträgt und sowohl von Ostdeutschen als auch Westdeutschen entrichtet wird, hat mit den Transferleistungen für die »neuen Länder« direkt nichts zu tun. Das Geld fließt vielmehr ohne Zweckbindung in den Bundesetat. Mittel aus dem Solidarpakt II sind tatsächlich zweckgebunden und kommen den neuen Bundesländern zugute. Der Solidarpakt II läuft Ende 2019 aus.
Die SPD will den seit 1991 erhobenen Solidaritätszuschlag ab 2020 für untere und mittlere Einkommensgruppen abschaffen. Dazu sollen die Freigrenzen deutlich angehoben werden. Profitieren sollen davon Haushalte bis zu einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 52 000 Euro (Single, Ehepaare bis 104 000 Euro). Bezieher sehr kleiner Einkommen zahlen die Ergänzungsabgabe schon heute nicht oder nur teilweise.
Die CDU verfolgt ein anderes Ziel: Sie will den »Soli« ab 2020 schrittweise für alle abschaffen. Von einer ersten Entlastungswelle im Volumen von vier Milliarden Euro sollen in der kommenden Legislaturperiode auch die Bezieher höherer Einkommen profitieren.
Die Linkspartei ist für eine schrittweise Senkung des Soli und will die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse über eine stärkere Besteuerung höherer Einkommen und Vermögen finanzieren. Ihr früherer Präsidentschaftskandidat, der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge, verweist darauf, dass die Abschaffung des »Soli« vor allem Hochvermögende und große Konzerne bevorteilen würde.
Die Grünen wollen den »Soli« erhalten, aber in veränderter Form. »Ziel muss sein, finanzschwache Länder und Regionen zu unterstützen - und zwar unabhängig von den Himmelsrichtungen«, so die Steuerexpertin der Grünen im Bundestag, Lisa Paus.
Die FDP setzt sich für ein schnelles Auslaufen der Sondersteuer ein. »Der Soli ist das Paradebeispiel für eine schier unendliche Belastung«, sagt FDP-Chef Christian Lindner und verlangt eine vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlages im Jahr 2019. tos
»Mit der CDU war kein besseres Ergebnis zu erzielen«, so hat es der Vorsitzende des Forums Ostdeutschland, Wolfgang Tiefensee, formuliert. Damals, im November 2016. Und jetzt? Es stehen Wahlen an. Ist vielleicht mit jemand anderem ein besseres Ergebnis zu erzielen? Eine schnellere Rentenangleichung zum Beispiel?
Von einem solchen Vorhaben steht jedenfalls nichts im Wahlprogramm der SPD. Überhaupt ist von Ostdeutschland dort kaum noch die Rede. Politisch sind die »neuen Länder« bei den Sozialdemokraten verschwunden - aufgegangen in »Regionen, die strukturschwach sind oder sich im Wandel befinden«. Gleichwertige Lebensverhältnisse überall, so wird das Ziel formuliert. Nur noch einmal taucht der Osten als Sonderfall auf - im Zusammenhang mit den Renten. Die SPD will einen Fonds für jene, »die bei der Überleitung der Alterssicherung der DDR in das bundesdeutsche Recht erhebliche Nachteile erlitten haben, die im Rentenrecht nicht lösbar sind«. Hierbei geht es unter anderem um die unzureichende Anerkennung der Ansprüche von Geschiedenen, Beschäftigten der Braunkohleveredelung oder Krankenschwestern.
Das Wahlprogramm der SPD ist keine Ausnahme. Die Grünen wollen die Förderung in strukturschwachen Regionen verbessern und dafür die Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern ausweiten, eine kooperatives Instrument, das auch andere Parteien als Ausweichmöglichkeit für die Ostförderung sehen. Bei der FDP steht ohnehin Wettbewerb im Vordergrund, nicht staatliche Unterstützung. Bei der Piratenpartei gibt es eine lange Passage zur Pyrotechnik in Fußballstadien - aber keine zu den Problemen und Chancen in den »neuen Ländern«.
Es gibt dafür Gründe. Die Wende ist lange her, fast 28 Jahre. Wer heute über Unterschiede reden will, dem fallen auch solche zwischen Nord und Süd ein. Es gibt im Osten boomende Regionen. Vor allem: Es gibt auch im Westen Landstriche, die von Strukturwandel, ökonomischer Schwäche und sozialen Problemen hart gezeichnet sind. 2019 läuft außerdem der Solidarpakt II aus. Der ewige Streit darüber, wem diese Fördermilliarden wirklich zugute kamen, wird dann bald nur noch etwas für Wirtschaftshistoriker sein.
Einerseits. Andererseits vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Statistiken vermeldet werden, in denen der Osten weiterexistiert: als soziale und ökonomische Sonderzone. Die Wirtschaftsleistung stagniert bei etwas über 70 Prozent der des Westens. Die Erwerbslosigkeit ist flächendeckend höher, das Risiko, in Armut zu rutschen, ebenso. Wohnungsgröße und Zahl der Kaiserschnittgeburten, Beurteilung der Demokratie und Haushaltsnettoeinkommen: Immer klebt rechts oben auf den Datenkarten am »Westen« ein Gebiet, auf dem die Farben noch etwas bedrohlicher rot sind oder die Zahlen noch etwas gefährlicher hoch. Die Umrisse eines vergangenen Landes.
Vor ein paar Jahren war der Osten deshalb ganz selbstverständlich noch ein Thema in den Wahlprogrammen. »Wir haben beim Aufbau Ost viel erreicht. Doch es bleibt weiterhin viel zu tun«, hieß es damals bei der SPD, die die »neuen Länder« auch als Vorreiter sah, etwa in Sachen Kinderbetreuung oder Erneuerbare Energien. Überschrift im Wahlprogramm 2009: »Die Soziale Einheit vollenden«. Oder bei den Grünen: Sieben Seiten fanden sich damals im Wahlprogramm zum Thema - »die Chancen Ostdeutschlands liegen in einer eigenständigen Entwicklung und der Entfaltung eigener Energien und Potenziale«. Gilt das nicht mehr? Und wenn doch, müsste dann Politik nicht diese »eigenständige Entwicklung« auch eigenständig fördern?
Bei der CDU verweist man darauf, dass nach dem Auslaufen des Solidarpaktes II die »neuen Länder« »weiterhin die erforderliche Unterstützung« erhalten - dank der Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Eine Passage im Wahlprogramm von Angela Merkels Partei behandelt wenigstens noch »gleiche Chancen in Ost und West« und verspricht »Maßnahmen zur Schaffung einer neuen Strukturperspektive für die Regionen mit besonderem Entwicklungsbedarf«. Man wolle es attraktiver machen, im Osten Arbeitsplätze zu schaffen, mit der »Vereinheitlichung der Übertragungsnetzentgelte«. Das hat etwas mit Stromtrassen zu tun und klingt, nun ja: nicht eben wie ein Wahlkampfschlager.
Die CDU wird bei der Abstimmung im September im Osten dennoch dominieren, wieder einmal. 2013 lagen die Christdemokraten mit 38,5 Prozent weit vorn, die SPD kam mit 17,9 Prozent nur auf Platz drei. Die Linkspartei erreichte dort nach saftigen Verlusten 22,7 Prozent. Die Generation der Ostdeutschen, die in der PDS ihre »Ostpartei« sahen, auch wenn sie mit Sozialismus nicht viel am Hut hatten, sie schrumpft.
Neueren Studien zufolge wohnt die Anhängerschaft der Linkspartei heute zu fast 60 Prozent im Westen. Fast jeder fünfte ihrer Wähler bundesweit ist unter 29 Jahre alt und kennt die Zeit vor der Wende nur noch aus Büchern. Plakate mit dem Schriftzug »Der Osten wählt rot« werden in diesem Wahlkampf anders als noch 2013 denn auch nicht zu sehen sein.
Die »neuen Länder« spielen bei der Linkspartei aber weiter eine vergleichsweise große Rolle. Man sieht sich »im Unterschied zu allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien als Vertreterin der Interessen der Menschen in Ostdeutschland«. Die »neuen Länder« haben im Wahlprogramm ein eigenes Kapitel. Es geht um Rente, um regionale Investitionen, um die Geschichte und um etwas, das sich schwer greifen lässt: ostdeutsches Selbstbewusstsein, das sich aus Erfahrungen vor der Wende und aus der friedlichen Revolution speist. Im Wahlprogramm ist von »progressiven ostdeutschen Lebensmodellen« die Rede, die »auch in der Bundespolitik als wichtige Impulse für die Zukunft anerkannt werden« müssten.
Natürlich will die Linkspartei eine sofortige, steuerfinanzierte Angleichung der Ostrenten ans Westniveau. Selbstverständlich macht man sich stark für regionalen Aufbau und die Befreiung ostdeutscher Wohnungsunternehmen von speziellen Altschulden. Eine Enquetekommission des Bundestags soll »Treuhandpolitik, Privatisierungen und die Goldgräberstimmung krimineller Investoren in den 1990er Jahren« aufarbeiten.
Aber auch bei der Linkspartei weiß man, dass die Forderung nach »Gerechtigkeit für die Menschen in Ostdeutschland« im Jahr 2017 nicht mehr erhoben werden kann, wenn man nicht auch etwas für die strukturschwachen Regionen im Westen verspricht. »Der Osten bleibt die größte Ansammlung von strukturschwachen Regionen bundesweit«, sagt Dietmar Bartsch. Der Fraktionschef ist so etwas wie die Verkörperung des Ostthemas in der ersten Reihe der Linkspartei - Sahra Wagenknecht wohnt im Saarland, Katja Kipping gehört politisch zur Nachwende-Generation und Bernd Riexinger ist ein Westgewerkschafter. Bartsch ist der, der auf Parteitagen das Thema »neue Länder« bespielt und der auch schon einmal vorprescht: etwa mit der Idee eines eigenständigen Ostministeriums.
Das war im März dieses Jahres. In der CDU hieß es damals, wer sich für Entwicklung starkmachen wolle, könne dies nur »in Gesamtdeutschland« tun. So wie in den vergangenen 28 Jahren? Auch die Sozialdemokraten lehnten die Idee von Bartsch ab. Kurz zuvor hatte der Chef der ostdeutschen SPD-Bundestagsabgeordneten »mehr Präsenz« seiner Partei im Osten gefordert. Die fünf »neuen Länder« hätten »immer den Ausschlag für den jeweiligen Bundeskanzler« gegeben, so Stefan Zierke damals. In den meisten Wahlprogrammen 2017 ist das kaum noch zu merken.
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