Bei türkeistämmigen Wählern wachsen die Zweifel

Demoskopen befürchten ein rückläufiges Interesse von Wahlberechtigten mit Migrationsgeschichte an der Bundestagswahl

  • Anne-Beatrice Clasmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Berlin. Nazi-Vergleiche, Verhaftungen, Armenier-Resolution, Auftrittsverbote für Politiker - um das deutsch-türkische Verhältnis ist es so schlecht bestellt wie nie. Meinungsforscher erwarten, dass der Dauerstreit zwischen Berlin und Ankara auch Einfluss auf den Ausgang der Bundestagswahl haben wird. Viele Wahlberechtigte mit türkischen Wurzeln dürften der Wahl am 24. September fernbleiben. Der Grund: Sie fühlen sich von den deutschen Parteien nicht mehr verstanden und an den Rand gedrängt. Das hat auch damit zu tun, dass die meisten von ihnen ihre Informationen über deutsche Politik aus türkischen Medien beziehen. Und die sind, was deutsche Parteien angeht, zur Zeit auf Krawall gebürstet.

Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, sagt: »Das ist natürlich problematisch, da die politischen Debatten in Deutschland nur durch einen Filter der türkischen Presse wahrgenommen werden. Wenn diese dann tendenziös berichten oder eine bestimmte politische Agenda verfolgen, ist das nicht immer positiv.«

Dass sich die Türkeistämmigen zunehmend abwenden, ist vor allem für die SPD und für die Grünen eine schlechte Nachricht. Sie waren bislang die bevorzugten Parteien der rund eine Million Deutschtürken, die in Deutschland wahlberechtigt sind. Das liegt vor allem daran, dass beide Parteien die Vorteile der Migration herausstreichen und immer wieder Maßnahmen gegen Diskriminierung einfordern.

»Wir rechnen diesmal mit einer deutlich geringeren Wahlbeteiligung der Türkeistämmigen«, erklärt Joachim Schulte von Data 4U, einem Institut, das sich auf Meinungsforschung in ethnischen Zielgruppen spezialisiert hat. Bei einer Untersuchung zur politischen Beteiligung von in Bayern lebenden Menschen mit Migrationsgeschichte stellte Schulte im Februar fest, dass diese Gruppe zur Zeit »mit allen Parteien besonders wenig« übereinstimmt.

Ähnliche Ergebnisse lieferte unlängst eine bundesweite repräsentative Befragung durch die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die der türkischen Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nahesteht. Dabei gaben 15 Prozent der Befragten an, sie wollten bei der nächsten Bundestagswahl gar nicht wählen. 41 Prozent wussten noch nicht, ob sie zur Wahl gehen oder machten keine Angaben. Beim Rest kam die Linkspartei auf vier Prozent. Sechs Prozent der 1000 Befragten wollten die Grünen wählen, sieben Prozent die CDU. Die SPD kam auf 22 Prozent. Der Wert für die AfD tendiert gegen Null. Zum Vergleich: Bei der zurückliegenden Europawahl hatten 54 Prozent der Befragten ihr Kreuz bei der SPD gemacht, 19 Prozent bei den Grünen.

Was sind die Gründe für diese Entfremdung?

Da ist vor allem die Verabschiedung der Armenier-Resolution im Bundestag im Juni 2016. Das Parlament hatte das blutige Vorgehen des Osmanischen Reiches gegen die Armenier vor mehr als hundert Jahren als Völkermord eingestuft. Alle elf Abgeordneten mit türkischem Migrationshintergrund bekamen nach der Abstimmung sogar so heftige Drohungen, dass sie zeitweise unter Polizeischutz gestellt wurden.

Auch der Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland und der von Erdogan erhobene Vorwurf, Deutschland sei ein Schutzraum für kurdische Terroristen und Unterstützer des Putschversuchs vom Juli 2016, fiel bei einigen Deutschtürken auf fruchtbaren Boden. Die Versuche deutscher Politiker, diese Vorwürfe zu entkräften, erreichten diese Gruppe dagegen oft gar nicht. Meinungsforscher Schulte erklärt: »Wir stellen einen Rückzug in die Community fest, der Konsum türkischer Medien hat bei den Türkeistämmigen im letzten Jahr sogar zugenommen. Er stieg von über 80 Prozent auf etwa 90 Prozent. Nur ein Drittel der Deutschtürken schaltet zumindest hin und wieder einen deutschen Sender ein.«

In der Bayern-Studie von Data 4U heißt es: »Selbst die in der Vergangenheit von dieser Wählergruppe favorisierte SPD erreicht nur unterdurchschnittliche Werte«. Die Grünen leiden nach Einschätzung der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD) darunter, dass der »Özdemir-Bonus« aufgebraucht ist. Einige Migranten aus der Türkei hätten früher die Grünen gewählt, weil mit Cem Özdemir ein Mann aus ihrer Mitte an der Spitze steht. Durch Özdemirs vehemente Kritik an Erdogan und seine deutliche Unterstützung der Armenier-Resolution sei aus diesem Bonus eher ein Malus geworden.

Dass die Türkeistämmigen in Deutschland Mitte-Links-Parteien bevorzugen, obwohl ein großer Teil von ihnen in der Türkei die islamisch-konservative AKP unterstützt, erklären die Forscher so: In Deutschland wählten die Migranten und ihre Nachfahren Parteien, von denen sie glaubten, dass diese ihren Interessen dienten. Die Vorliebe für bestimmten Parteien in der Türkei habe dagegen mehr mit Herkunft und Emotionen zu tun. dpa/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -