Im Gepäck den Fahrplan der Revolution
Matthias Steinbach rekonstruiert Lenins Weg von der Züricher Spiegelgasse in den Moskauer Kreml
Außerhalb der Exilzirkel und der involvierten Regierungsstellen nahm am Nachmittag des 9. April 1917 (Ostermontag) niemand Notiz, als eine von Lenin angeführte Reisegruppe russischer Emigranten am Bahnhof Zürich den Zug in Richtung Schaffhausen bestieg. Nach der einwöchigen Fahrt durch das Deutsche Reich und Skandinavien sollte sich bei Ankunft des Zuges auf dem Finnländischen Bahnhof in Petrograd am 16. April die Kulisse jedoch gewaltig ändern: Der unbestrittene Wortführer der Bolschewiki wurde von einer vielköpfigen Menge jubelnd empfangen. In seinem spärlichen Reisegepäck befanden sich die legendären »Aprilthesen«, der Fahrplan für die künftige Revolution.
Die bekannteste Zugfahrt des 20. Jahrhunderts im angeblich »plombierten Wagen« beschäftigte schon frühzeitig die Fantasie der Zeitgenossen und wurde in der Folgezeit vielfach literarisch beschrieben. Einer der Hauptorganisatoren und selbst Mitreisender, Lenins Schweizer Kampfgefährte Fritz Platten, veröffentlichte 1924 ein Erinnerungsbuch. Auf diese Quelle stützte sich Stefan Zweig maßgeblich, als er die Zugfahrt in einer seiner berühmten Miniaturen als »Sternstunde der Menschheit« beschrieb; das Werk erschien allerdings erst posthum 1943. Plattens Publikation nutzte später auch Alexander Solschenizyn für sein Werk »Lenin in Zürich«. Diese und viele andere Quellen kennt und nennt der in Braunschweig wirkende Historiker Matthias Steinbach im vorliegenden Buch selbstverständlich.
Für seine Darstellung des dramatischen Geschehens vor 100 Jahren wählt er allerdings einen neuen, durchaus originellen Ansatz. Um die vielschichtigen Hintergründe und komplexen Interessenlagen aller damals Beteiligten möglichst authentisch und präzise widerzuspiegeln, nutzt er die theatralische Darstellungsform.
In einer szenischen Lesung in zwei Akten kommen knapp zwei Dutzend Akteurinnen und Akteure - von Lenins Freundin Inessa Armand bis zum deutschen Kaiser Wilhelm II. - zu Wort. Die Eröffnungsszene spielt in der Zürcher Stadtbibliothek Anfang 1916, als sich Lenin mit dem Bibliothekar über die für ihn bereitgestellten Werke von Hegel und Clausewitz austauscht. Abgesehen davon, dass Lenin die besagten Bücher schon 1914/1915 im Berner Exil gründlich studiert hatte, wird durch diesen treffenden Verweis deutlich, wie wichtig gerade diese beiden Autoren für die Ausarbeitung seiner Revolutionsstrategie im Schweizer Exil waren.
In sechs weiteren Szenen im Ersten Akt beleuchtet Steinbach im wahrsten Sinne des Wortes - die Vorgeschichte der Zugfahrt verblieb seinerzeit völlig im Dunkel der Geheimdiplomatie - vornehmlich die klandestinen Aktivitäten der deutschen Regierung, die am Ende die höchst umstrittene Reise ermöglichte. Das Frühstück im Berliner Schloss im Dezember 1916 mit Kaiser, Reichskanzler und dem Kopenhagener Gesandten ist ein literarisches Kabinettstückchen. Der zunächst zögerliche Wilhelm II. wird so lange und geschickt Theobald von Bethmann-Hollweg und Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau bearbeitet, bis er gemäß seinem Lieblingsmotto »HIDEKK« - »Hauptsache ist, die Engländer kriegen Kloppe!« - grünes Licht für die Durchreise der russischen Revolutionäre gibt, wenngleich ihm der bevorstehende Sturz seines Vetters Nikolaus II. leichte Gewissensbisse bereitet.
Auch Lenin und seine Mitstreiter gehen auf dünnem Eis, denn der Vorwurf des Vaterlandsverrats liegt bei den Verhandlungen mit den Deutschen auf der Hand. Hier zeigt Steinbach, wie geschickt Lenin in seinen Verhandlungen mit den Schweizer Mittelsmännern sowie in den Gesprächen mit Karl Radek und dem undurchsichtigen Strippenzieher Alexander Parvus die Fallstricke dieses »Teufelspaktes« (Sebastian Haffner) umging.
Im Zweiten Akt geben insgesamt zehn Szenen das wechselnde Geschehen während der einzelnen Reiseetappen wieder. Am Ende des Stückes kommen mit Wilhelm II. und Ludendorff nochmals die Deutschen zu Wort, die sich nach Abschluss des Raubfriedens von Brest-Litowsk im März 1918 auf der Gewinnerseite wähnen.
Wie janusköpfig auf lange Sicht allerdings auch der Triumph Lenins war, bringt der Epilog zum Ausdruck, in dem ein alter politischer Witz paraphrasiert wird. Anlässlich der Feier seines 100. Geburtstages 1970 offenbart der Revolutionsführer einem Posten im Mausoleum: »Ich muss zurück in die Schweiz. Wir müssen noch einmal ganz von vorne anfangen.«
Das Buch enthält neben Fotos, Zeittafel sowie einem sorgfältig ausgewählten Dokumentenanhang und Literaturverzeichnis auch ein biografisches Glossar. Darin wird auf das spätere tragische Schicksal von einigen der Reisegefährten Lenins hingewiesen. Neben Georgi Sinowjew und Karl Radek, die Stalin 1936 und 1939 ermorden ließ, traf es auch Fritz Platten. Der Schweizer Kommunist hatte seit 1923 dauerhaft in der Sowjetunion gelebt. Im Zusammenhang mit den »Großen Säuberungen« wurde er 1939 zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt und 1942, ausgerechnet am 22. April, an Lenins Geburtstag, erschossen.
Matthias Steinbach: Von der Spiegelgasse in den Kreml. Lenins Reise nach Russland 1917. Reihe Zeitgeschichten. Metropol Verlag. 139 S., geb., 16 €.
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