Wahlkampf im Stasi-Knast
Die Kanzlerin zu Besuch im ehemaligen Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen
Kurz nach 11 Uhr am Freitag meldet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vom Urlaub zurück zur Arbeit. Vor der ehemaligen zentralen Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen entsteigt sie im apfelgrünen Blazer ihrer Limousine. Das Empfangskomitee bilden neben dem Leiter der Gedenkstätte, Hubertus Knabe, auch Kulturstaatssekretärin Monika Grütters sowie der Wahlkreiskandidat Martin Pätzold (beide CDU). Kultursenator Klaus Lederer (LINKE) stört die christdemokratische Einheitlichkeit etwas, verabschiedet sich jedoch nach der Begrüßung auch gleich wieder.
Symbolträchtig öffnet sich das doppelte Schleusentor des ehemaligen Stasiknastes, um die Kanzlerin und ihren Tross einzulassen. Offizieller Anlass des Termins: Der Bund und das Land Berlin stellen gemeinsam 8,8 Millionen Euro zur Verfügung, um alle historischen Oberflächen denkmalgerecht sanieren zu können. Dabei sollen auch neue museale Bereiche und Seminarräume entstehen. Während der 2013 abgeschlossene erste Bauabschnitt vor allem dem Altbau galt, umfasst der zweite Bauabschnitt den Gefängnisneubau aus den 1960er Jahren mit dem Zellen- und Vernehmertrakt, die Freigangzellen und das Haftkrankenhaus. Mehr als 10 000 meist politische Häftlinge wurden seit 1951 hier von der Stasi inhaftiert und oft physisch und psychisch gefoltert.
Inoffiziell ist es der Auftakt zum Bundestagswahlkampf. Nur so kann man die Einlassung verstehen, die Merkel am Ende zum Besten gibt. Froh sei sie, dass in der Gedenkstätte »Arbeit gegen Linksradikalismus geleistet« werde, »denn das sind Erscheinungsformen von heute, die wir nicht negieren können, sondern um deren Bekämpfung wir uns kümmern müssen«.
Ganz ohne Widerspruch lief die Veranstaltung dann doch nicht ab. Dazwischen kam die soziale Frage. Gegenüber dem Gefängnistor hat sich eine kleine Demonstration formiert. »Rentenbetrug« steht auf dem Transparent, um das sich mehr als ein Dutzend Menschen versammelt hat. Es geht um die Rentenzusagen, die DDR-Flüchtlingen in der Bundesrepublik gemacht und mit dem Einigungsvertrag 1990 wieder einkassiert wurden. Merkel nimmt sich ein paar Minuten Zeit, noch bevor sie den Knast betritt. Selbst innerhalb des Komplexes ist die Bundeskanzlerin nicht sicher vor jenen, die sich betrogen fühlen. Edda Sperling hat sich extra einen Presseausweis besorgt, um Merkel ihr Anliegen zu schildern und fängt die Kanzlerin geschickt ab.
1978 wurde die damals 24-jährige Sperling inhaftiert. Der Vorwurf damals: Versuchte Republikflucht. »Das ist totaler Blödsinn gewesen. Ich hatte mich einfach auf die Schlussakte der KSZE von Helsinki 1975 berufen«, sagt Sperling. Auf der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« einigten sich die Staaten Ost- und Westeuropas in einer freiwilligen Selbstverpflichtung auch auf die Einhaltung der Menschenrechte, darunter auch die Reisefreiheit. Der Text der Deklaration wurde in der DDR damals auch in Zeitungen veröffentlicht.
Insgesamt 22 Monate war sie im Gefängnis. »Was ich dort erlebt habe, möchte ich nicht erzählen, sonst kommen mir wieder die Tränen«, sagt Sperling. Nicht nur die Haft war traumatisch für sie, auch ihre ganze Lebensplanung war nichts mehr wert. »Ich durfte nicht mehr als OP-Schwester im Krankenhaus Buch arbeiten, stattdessen war ich dann als Putzfrau beschäftigt.« Auch finanziell ein deutlicher Unterschied. Statt vorher 1200 Mark verdiente sie gerade noch 400 Mark. 1982 konnte sie dann nach West-Berlin ausreisen.
Die Rente sollte in der Bundesrepublik so berechnet werden, als hätte sie ihr ganzes Arbeitsleben dort verbracht, das war damals Standard für DDR-Flüchtlinge. »Demnach würde ich heute 1800 bis 2000 Euro bekommen. Tatsächlich sind es aber nur 1200 Euro«, sagt Sperling. »Das ist Betrug.« Merkel zeigt sich betroffen und will die Unterlagen persönlich zugeschickt bekommen.
»Bisher ist die Kanzlerin sehr arrogant mit unseren Forderungen umgegangen«, sagt die ehemalige Krankenschwester. »Ich hoffe, dass wir nun endlich unser Recht bekommen.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.