Digitale Wunder
Gegen eine Politik des Wünsch-Dir-was: Die Linken sollten nicht alle denkbaren utopischen Erwartungen auf eine imaginäre »Digitalisierung« projizieren
Neue Wörter wirken Wunder - auch wenn sie nicht ganz neu sind, sondern nur aus ihrem ursprünglichen Kontext entwendet und in einen anderen, hier: die industrie- und gesellschaftspolitische Debatte, eingeführt wurden. Ein solches Wort ist »Digitalisierung«.
Bezeichnete es als technischer Fachbegriff die Umwandlung analoger in digitale Signale, soll es jetzt für die Einführung digitaler Technik in nahezu alle Bereiche stehen; wobei stillschweigend unterstellt wird, dass es sich dabei um elektronische digitale Technik handle. Denn digitales Rechnen, das heißt Rechnen mit Ziffernsystemen, kann bereits auf eine mehrtausendjährige Geschichte zurückblicken und selbst die digitale Maschinensteuerung ist schon über zweihundert Jahre alt. Auch die elektronische digitale Technik und darauf aufbauende industrielle Steuerungssysteme gibt es schon seit vielen Jahrzehnten und analoge elektronische Steuerungen noch länger.
Ungeachtet feinerer Differenzierungen scheint auch für viele in der Linken keinem Zweifel zu unterliegen, dass wir »im Zeitalter der Digitalisierung« lebten. Damit, wie mit der Übernahme der Rede von der 4. Industriellen Revolution, hat man sich bereits mit der Kanonisierung eines Geschichtsbildes abgefunden, das zwar sachlich kaum zu rechtfertigen ist, sich jedoch hervorragend zur Dekorierung eines recht handfesten Programms eignet, das von dem banalen Begehren der einschlägigen Industrie, möglichst viele digitaltechnische Gadgets zu verkaufen, über die Durchsetzung einer weiteren Deregulierung und Entwertung von Arbeit bis hin zur kontrollförmigen Durchdringung möglichst aller Lebensbereiche reicht. Mit der Formel »Digitalisierung« verbindet sich ein neuer Mix von Kommerz und Biopolitik.
Mason, Rifkin und die Folgen
Eine, durch die Rezeption von Autoren wie Paul Mason [Mason 2015] und Jeremy Rifkin [Rifkin 2015] an Zulauf gewinnende, Strömung in der Linken geht davon aus, dass eine so verstandene Digitalisierung leidige Fragestellungen, wie die nach den Bedingungen der Arbeit, darunter insbesondere die nach ihrer Entlohnung, und nach der Verfügung über ihre gegenständlichen Voraussetzungen, gegenstandslos mache, indem sie die ein Leben jenseits der Lohnarbeit ermögliche. Ich nenne sie die der digitalen Utopisten. Nachdem Katja Kipping und Petra Sitte ihre Neigung zu solchen Positionen nur zart angedeutet hatten, kam mit Ronald Blaschke ein ausgesprochener Vertreter dieser Strömung zu Wort.
Blaschke weiß genau, dass es »im Kern […] bei der Digitalisierung um eine Möglichkeit, Ökonomie und Gesellschaft politisch anders zu gestalten [geht]«. Man fragt sich, ob diejenigen, die diesen Begriff mit dieser neuen Bedeutung heute durch alle publizistischen Kanäle propagieren, das auch so sehen, oder nicht vielmehr eine eigene Agenda verfolgen, die, wenn überhaupt, eine ganz andere Variante von »politisch anders« einschließt, als die digitalen Utopisten im Sinn haben mögen.
»Das Digitale als Kommunikationsmedium ermöglicht jederzeit und überall dialogische und kollektive Kommunikation und Vernetzung«, glaubt Blaschke. Was »das Digitale« auch sein mag und weshalb es auch noch ein Kommunikationsmedium sein soll, das Interessanteste an Sätzen, die sich des Verbs »ermöglichen« bedienen, sind meist die Ceteris paribus-Klauseln, die sie verschweigen.
Was ist Zusammenarbeit?
Bei einer Aussage wie »das Stipendium ermöglichte ihr, nach China zu reisen« unterstellt man meist, dass sie der finanziellen Seite des Unternehmens gilt und die betreffende Person dabei immer noch selbst Körper und Geist bewegen musste. Entsprechend auch, wenn das Stipendium eine Promotion ermöglichte, dass die Dissertation immer noch selbst zu verfassen war. Aber in welchem Sinne ermöglicht das ominöse »Digitale« »dialogische und kollektive Kommunikation und Vernetzung«? Nicht allein, dass »das Digitale« doch, in Gestalt von Infrastruktur und persönlichem Zugang zu entsprechenden Endgeräten, materielle Voraussetzungen hat, sondern Kommunikation, besonders der Dialog, setzt doch eine gemeinsame Sprache und das heißt: einen Raum von geteilten Bedeutungen voraus. Genau deshalb ist die These, dass »über digitale Informationsgüter […] jede und jeder immer und überall verfügen [kann]« schlicht falsch.
Wehalb digitale Informationsgüter, die doch Digitalisierung voraussetzen, dann auf einmal »die Grundlage der Digitalisierung« sein sollen, überrascht zusätzlich. Nicht weniger tut dies die Behauptung, dass »ein digitales Informationsgut […] jederzeit und überall, sogar überall gleichzeitig und von einer unüberschaubaren Menge von zusammen arbeitenden Menschen (weiter)entwickelt und bearbeitet werden [kann]«.
Man fragt sich, was Blaschke unter Zusammenarbeit versteht. Sicher können Einzelne bestehende Informationsgüter erweitern bzw. ergänzen oder auf deren Basis neue schaffen, doch die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung eines Produkts, die, im Gegensatz zu dessen Aufspaltung in eine unübersehbare Vielzahl von Entwicklungslinien, dessen Integrität bewährt, verlangt Koordination und Koordination ist eine voraussetzungsvolle Tätigkeit. Die Vervielfältigung und vielfache Verbreitung digitaler Informationsgüter allein bringt sie nicht zustande. Mit »einer unüberschaubaren Menge von zusammen arbeitenden Menschen« fällt sie sogar extrem schwer. Das ist zumindest der Schluss, den ich aus einer jahrzehntelangen Erfahrung mit der Produktion von Informationsprodukten ziehen zu können glaube und dem auch die bekannten offenen Softwareprojekte folgen, indem sie eine oft rigide Disziplin bis hinein in den Codierstil durchsetzen.
Einige Absätze später kommt zwar immer noch keine Einsicht in ihre kulturellen und sozialen Bedingungen, doch immerhin das Eingeständnis, dass digitale Information zumindest materieller Mittel bedarf, doch ohne dass dies zu einer Revision der vorangestellten, mit dem Anspruch universeller Gültigkeit formulierten, Grundsätze führte. Also muss eine »Netzpolitik« her, die »natürlich, will sie den Zugang zu digitalen Informationsgütern und digitale Vernetzung allen gleich in hoher Qualität ermöglichen, frei zugängliche, offene und schnelle Netze technisch und rechtlich ermöglichen [sollte]«.
Ohne Kapital, Lohnarbeit und Staat?
Doch damit das »einige Linke« nicht missverstehen, folgt gleich die Ermahnung, dass »solche Investition ins Öffentliche keine staatsfixierte, arbeitsmarkt- oder beschäftigungspolitische Aufgabe [ist]«. Sicher soll das so sein, damit niemand davon abgehalten wird, exklusiv vom Grundeinkommen zu leben, das vielleicht verfügbar sein wird, wenn es mit den Netzen so weit ist. Wir wünschen uns alle ein ganz freies, superbreitbandiges und überall hinreichendes Netz, ganz ohne Kapital, ohne Lohnarbeit und auch ohne Staat! Wahrscheinlich bauen das dann die ausschließlich vom Grundeinkommen Lebenden in freiwilligen Aufbauschichten.
Nicht fehlen dürfen, mit Verweis auf den Gewährsmann Jeremy Rifkin vorgebrachte, Versprechungen, wie die, dass »die Digitalisierung eine kostensparende, effiziente öffentliche Bereitstellung und Sicherung zum Beispiel von Energie und Bildung ermöglicht - auch in dezentralisierender Absicht«. Dass die digitale Technik in der Bildung wie im gesamten Informationssektor nicht die Dezentralisierung, sondern die, wenn auch nicht allein aus ihr resultierenden wirtschaftlichen Zwängen folgende, Zentralisierung unterstützt, ist doch kaum zu übersehen. Auch das Geschäft mit Online-Unterricht und wissenschaftlichen Publikationen beherrscht heute eine Handvoll globaler Spieler.
Die sich ebenfalls auf Rifkin berufende Überzeugung, »dass eine dezentrale, lokale Energieerzeugung und -nutzung auf der Basis erneuerbarer Energien durch eine digitalisierte Erzeugungs- und Verbrauchssteuerung und Vernetzung mit anderen lokalen Energienetzen hochgradig effizient sein kann – und auch Energiepreise drastisch reduzieren könnte«, ist ein reiner Hoffnungswert.
Selbstverständlich erfolgt die Überwachung und Steuerung der Kraftwerke und Energienetze heute schon mittels elektronischer digitaler Technik; wobei gerade die Gewinnung — eine Erzeugung ist nicht möglich — von Energie aus erneuerbaren Quellen sich dadurch auszeichnet, dass sie nicht steuerbar ist. Eine Steuerung der Nutzung dürfte zudem nur in engen Grenzen möglich sein. Geräte wie der vielbeworbene »Smart Meter« sind völlig unerheblich, da sie, mit unverhältnismäßigem Aufwand, nur einen verschwindenden Teil des Energieverbrauchs zu verschieben gestatten. Das hat zur Folge, dass der Einsatz von Energie aus erneuerbaren Quellen, bedingt durch deren ungleichmäßigen, nicht beeinflussbaren Anfall, hier vor bisher ungelösten Problemen steht. Jede denkbare Lösung derselben durch wie auch immer beschaffene Speicher und Reservekapazitäten wird die Kosten erneuerbarer Energie in die Höhe treiben und, da sowohl die Herstellung der Anlagen zu ihrer Gewinnung als auch der zu ihrer Speicherung wiederum Energie kostet, insbesondere die Energieproduktivität der Volkswirtschaft deutlich reduzieren. Das Missverhältnis zwischen der geringen und zudem schwankenden Leistungsdichte, mit der Energie aus erneuerbaren Quellen verfügbar ist, und den Anforderungen, die industrielle Anwendungen wie auch urbane Agglomerationen stellen, wird deren Erfüllung durch lokale, dezentrale Anlagen in Frage stellen [Fischbach 2017b].
Langsam, teuer - und bald noch teurer
Eine weitere Technik, auf die sich gegenwärtig große Hoffnungen richten, ist der 3D-Druck. Blaschke hält ihn für »eine effiziente und nachhaltige Form der dezentralen Produktion und Konsumtion auf der Grundlage digitaler Informationsgüter«, lässt dabei aber völlig offen, was daran »effizient und nachhaltig« sein soll.
3D-Druck ist langsam, teuer und wird noch teurer, wenn er Teile hervorbringen soll, die industriellen Qualitätsanforderungen genügen. Er hat sinnvolle Anwendungen im Modell-, Prototypen- und Formenbau und bei der Fertigung von teuren Teilen mit komplexer Geometrie, die nur in kleinen Stückzahlen benötigt werden. In letzterem Fall erlaubt er sogar Produkte, die bisher nur aus verschiedenen Teilen zusammenzufügen waren, monolithisch zu fertigen. Neben der Luft- und Raumfahrtindustrie profitiert davon zum Beispiel die orthopädische Prothetik.
Die Masse der Press-, Guss- und Schmiedeteile, aus denen Industrieprodukte überwiegend bestehen, mittels 3D-Druck zu fertigen, ergibt jedoch keinen Sinn. Das entspricht der Einschätzung der meisten Experten auf diesem Gebiet [Lixenfeld 2015]. Legoklötze, Löffel und Kochtöpfe ebenso wie Zahnräder, Kugellager, Karosseriebleche etc. mittels 3D-Druck herzustellen, ist weder effizient noch nachhaltig. Auch 3D-Drucker verbrauchen Energie und Material, dessen Produktion wiederum Energie und Rohstoffe verbraucht.
Die heute in der Linken kursierenden Erzählungen von dezentraler Produktion und insbesondere vom 3D-Druck als eines sich dafür empfehlenden Verfahrens, zeichnen sich durch extrem unterkomplexe Vorstellungen von industriellen Entwicklungs- und Fertigungsprozessen aus. Komplexe Produkte müssen aus vielen unterschiedlichen Teilen montiert werden, deren Herstellung ein weites Spektrum von Verfahren erfordert. Jene müssen nicht nur hinsichtlich ihrer Geometrie sowie ihrer Material- und Oberflächeneigenschaften aufeinander abgestimmt sein, sondern im Rahmen ihrer Spezifikation auch diversen Normen genügen. Die dazu erforderliche Mess- und Prüftechnik bzw. deren Anwendung liegt überwiegend ausserhalb der Möglichkeiten der jenen Vorstellungen entsprechenden Produktionseinheiten.
Wo Marx irrte
Trotz der fortgeschrittenen Verwissenschaftlichung der Industrie ist Technik nicht einfach die Anwendung von Wissenschaft bzw. nur Ausdruck des »allgemeinen Wissenstandes«, wie Blaschke, offensichtlich in Anlehnung an einige Passagen aus den »Grundrissen« von Marx, in einem nachfolgenden Artikel formuliert. Schon die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Technik verlangt mehr als nur das Wissen um diese. Vielmehr ist dazu immer technologische Urteilskraft gefordert: das Wissen darum, welche Erkenntnisse bzw. Gesetzmäßigkeiten für die vorliegende Aufgabe relevant sind und welcher Grad der Isolation letzterer von Umgebungseinflüssen erforderlich ist. Das »allgemeine gesellschaftliche Wissen, Knowledge«, wird deshalb, anders als Marx glaubte und eine Anzahl von unbeirrt Gläubigen in der Linken zu repetieren nicht müde wird, nie »zur unmittelbaren Produktivkraft« [Marx 1939, 602], sondern bedarf immer der Vermittlung durch die konkrete konstruktive Anschauung. Der allgemeine Stand des Wissens bildet selbstverständlich den Hintergrund, auf dem sich produktive Tätigkeit entfaltet, und beeinflusst auch deren Niveau, doch ist diese immer von besonderem Wissen abhängig.
Technik und Wissenschaft durchdringen sich gegenseitig, ohne ineinander aufzugehen. Wissenschaft braucht heute mehr denn je Technik und Technik braucht Wissenschaft, doch Analyse und Berechnung folgen in der Technik der Intuition, nicht umgekehrt.
Zur Entwicklung und Fertigung anspruchsvoller Produkte bedarf es eines jeweils besonderen, situierten und oft zu einem bedeutenden Teil impliziten Wissens, das sich nur in einer kommunizierenden Organisation akkumuliert, die sich über einen längeren Zeitraum auf bestimmte Produkte und Verfahren konzentriert und dabei eine gewisse personelle Kontinuität aufrecht erhält. Anders kann sich die kritische Masse an Erfahrung, die für eine beständige Verbesserung von Konstruktionen und Verfahren erforderlich ist, nicht ansammeln. Anspruchsvolle Fertigungsverfahren implizieren mehr als nur die Vervielfältigung digitaler Abziehbilder. Ich habe mich mit den, technologisches Wissen weitgehend vermissen lassenden, kurrenten Vorstellungen von lokaler Produktion, denen auch Blaschke anzuhängen scheint, an anderer Stelle ausführlich auseinandergesetzt [Fischbach 2016, 153-208].
Falsche Begeisterung
In der Begeisterung für die dezentrale Produktion auf der Basis »digitaler Informationsgüter« versteckt sich ein geheimer Idealismus, der, indem er von den Naturbedingungen der menschlichen Existenz und den Fragen der Verfügung über diese abstrahiert, bei aller Berufung auf Marx Welten von dessen materialistischem Denken trennen. »Erstens, sieht sich der Arbeitende bereits einer von anderen bearbeiteten Welt gegenüber. Diese Welt ist vergegenständlichtes Wissen und Fähigkeit der Menschheit.« In »dieser Welt« haben sich »Wissen und Fähigkeit der Menschheit« zwar vergegenständlicht, doch »ist« sie mit deren Vergegenständlichung nicht identisch.
»Die Arbeit ist nicht die Quelle des Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft« [Marx 1875, 15]. Dies hielt Marx schon der deutschen Sozialdemokratie entgegen, als sie die Arbeit zur Quelle allen Reichtums und aller Kultur erklärte.
Die digitalen Utopisten unserer Tage gehen noch einen Schritt weiter in die falsche Richtung, indem sie die Arbeit durch das Wissen ersetzen. Dabei wird, was bei Marx noch Naturkraft war, schließlich »individueller Ausdruck geschichtlich gewordener Bildung und Wissenschaft«. Zu beachten ist hier auch, dass es der reife Marx — also der Marx, der die Grundrisse und das Kapital, den ersten Band wie den größten Teil der Manuskripte, aus denen Engels den zweiten und den dritten kompilieren sollte, hinter sich gelassen hatte — war, der diese Einwände formierte und anscheinend zu einer sehr konkreten Auffassung von Natur und Arbeit gelangt war.
Leibliche Menschheit, äußere Natur
Für den digitalen Utopismus verschwindet die leibliche Menschheit mit der äußeren Natur. Das, was in irreduzibler Abhängigkeit von der Natur in praktischer Auseinandersetzung mit ihr entsteht, nämlich die bearbeiteten Dinge wie die menschliche Arbeitskraft und das menschliche Wissen, werden zu platten Abbildern von »Wissen« — und das soll wohl am Ende heißen: von »digitalen Informationsgütern«. Die Rede von Produktionsweise und Gesellschaftsform als »Betriebssystem«, die sich bei Blaschke wie bei Kipping und Sitte findet, ist dann nur konsequent. Gesellschaftliche Transformation reduziert sich folglich auf den Austausch eines digitalen Programms mit anschließendem Reboot.
Wenn Blaschke von der »Zunahme des Anteils von digitalen Informationsgütern in der automatisierten, unmittelbaren Produktion von Gütern und Dienstleistungen« spricht, stellt sich die Frage: Zunahme, nicht allein »in«, sondern an was? Die folgende Behauptung, dass »mit dieser […] sowohl der Anteil der Wertübertragung von Maschinen und die Neuwertschöpfung durch lebendige Arbeit als auch der Anteil der verwertbaren lebendigen Arbeit in der unmittelbaren Produktion selbst ab[nehmen]«, legt immerhin nahe, dass hier der Anteil am Wert gemeint ist.
Für Anhänger der Arbeitswerttheorie in ihrer marxistischen Variante bestimmt sich der Wert durch das zur Produktion mittelbar und unmittelbar aufzuwendende Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit, während eine entspanntere Sicht in einer Geldwirtschaft den Preis der Dinge — ohne den Versuch der Herleitung aus einer unmessbaren Größe wie dem Wert —, außer durch den Profit, hauptsächlich durch die Kosten von Arbeit und Produktionsmitteln, die mittelbar wiederum auf Arbeitskosten und Profit zurückgehen, gegeben sieht.
An die Stelle der Arbeit, die für die klassische Ökonomie, zu der auch Marx gehört, den Wert der Dinge bestimmt, setzt die Neoklassik eine andere, doch ebenfalls unmessbaren Größe: den Nutzen — ein, in den Worten von Joan Robinson, »metaphysical concept of impregnable circularity« (metaphysisches Konzept von unüberwindlicher Zirkularität) [Robinson 1962, 47]. Als Grenznutzen soll es den Preis der Waren bestimmen: Menschen geben Geld für Dinge aus oder geben Dinge für Geld her, weil der damit verbundene Nutzenzuwachs exakt dem Preis entspricht.
Die Rolle des Faktors Arbeit
Und warum ist das so? Weil sie es sonst, als rationale Nutzenoptimierer, nicht tun würden. In dieser Denkfigur gründen auch die Diagramme, in denen die Angebots- und die Nachfragekurve sich so schön schneiden, mittels derer die gängigen Lehrbücher der Ökonomie Studenten vom Denken abhalten. Dass es so etwas wie Fixkostendegression und darauf beruhende Skalenerträge gibt, ist darin nicht vorgesehen. Dass Ronald Blaschke mich als Vertreter dieser Doktrin bezeichnet, ist allerdings ehrenrührig. Dies, obwohl ich auch in dem Buch, auf das er sich dabei bezieht, wie mehrfach in anderen Schriften, explizit dagegen argumentiere [Fischbach 2917a, 101-103]. Ob das daran liegt, dass er das Buch nicht gelesen bzw. nicht verstanden hat oder einfach nicht weiß, was den Gehalt der Grenznutzentheorie ausmacht, möchte ich hier offen lassen.
So oder so kann der Anteil des Faktors Arbeit in unmittelbarer oder, via Abnutzung von Ausrüstungen, mittelbarer Form am Wert bzw. Preis der Waren durch den Einsatz digitaler Informationsgüter nicht zurückgehen, denn sofern diese einen Anteil an den Kosten haben, wird sich auch dieser wieder auf jene Faktoren verteilen. Also letztlich auf Arbeitskosten und Gewinne. Hinter dem Verweis auf das Schwinden des Anteils der Arbeit »in« der Produktion versteckt sich der Glaube an den magischen Charakter von Information bzw. digitalen Informationsgütern, dem eine wachsende Rolle und wertschöpfende Kraft zukommen soll, obwohl niemand sagen kann worin er besteht und wie er sich bemerkbar macht.
Die Rede von der »unlimitierten Reproduzierbarkeit und Teilbar-/Entwickelbarkeit digitaler Informationsgüter und damit tendenziell gegen null gehender Grenzkosten und sinkender Fixkosten pro Stück Informationsgut« soll dann den revolutionären Charakter der sich hier anbahnenden Dinge dartun, wobei die Annahme einer »Zunahme des Anteils von digitalen Informationsgütern in der automatisierten, unmittelbaren Produktion von Gütern und Dienstleistungen« die Erwartung trägt, der unterstellte Charakter dieser Güter übertrage sich zunehmend auf physische Güter und Dienstleistungen. Doch abgesehen davon, dass der Preis der Waren letztlich immer durch die Arbeitskosten und die Profite bestimmt ist, geht die Unterstellung einer »unlimitierten Reproduzierbarkeit und Teilbar-/Entwickelbarkeit« jener Güter in mehrfacher Weise an den hier relevanten Sachverhalten vorbei.
Fortschreitende Monopolisierung
Eine Fixkostendegression findet selbst bei schwindenden Grenzkosten nur mit einer zunahmen Anzahl von zu fertigenden Exemplaren des Produkts statt und auch nur bis die Kapazitätsgrenze oder Lebensdauer der Anlagen erreicht ist, auf denen dies geschehen soll. Doch eine große Zahl von Kopien stellt insbesondere bei Informationsgütern eher die Ausnahme dar: von den meisten Informationsgütern werden, da sie entweder, wie zum Beispiel die Fehleranalyse eines Fertigungsverfahrens auf einer bestimmten Anlage, sehr spezielle Information enthalten oder, wie zum Beispiel eine Studie über die Relevanz von Heideggers Denken für die Technikphilosophie, aus anderen Gründen nur eine sehr begrenzte Leserschaft finden. Die tatsächlich sehr starke Fixkostendegression bei in großen Zahlen nachgefragten digitalen Informationsgütern unterstützt zudem nicht, wie Blaschke mit vielen anderen erwartet, die Dezentralisierung sondern ihr Gegenteil und damit eine fortschreitende Monopolisierung des Informationssektors.
Während bei abgeschlossenen Informationswerken im herkömmlichen Sinne die Grenzkosten einer digitalen Kopie tatsächlich sehr gering sind, ist dies bei ‚lebenden‘ Werken wie Software und Datensammlungen nicht der Fall. Software und Datensammlungen lebensfähig zu halten, ist mit signifikantem Aufwand verbunden — einem Aufwand der trotzdem nicht verhindert, dass insbesondere Software altert und das Ende ihres nützlichen Lebens erreicht. Dafür sorgen sowohl die Beseitigung der immer vorhandenen Fehler, die meist wiederum Fehler einführt, als auch die Anpassung an Veränderungen der Umwelt und der Nutzanforderungen, die irgendwann ihre Architektur überfordern. Im Unterschied zu den populären Anwendungsprogrammen, bei denen sich die entsprechenden Aufwände auf Millionen von Kopien verteilen, ist der Teiler bei industriellen Softwaresystemen, die zudem einen großen Umfang von kunden- und prozessspezifischen Konfigurationen, Anpassungen und Erweiterungen enthalten, ungleich geringer.
Dies alles trifft in noch höherem Maße auf die digitalen »Blaupausen« physischer Produkte zu: Auch CAD-Modelle und Zeichnungen, Normen, Stücklisten und Fertigungspläne sind ebenso wenig wie die Anlagen zu ihrer Realisierung statisch. Die Vorstellung, dass man irgendwann eine umfassende digitale Matrix nur noch grenzenlos zu reproduzieren brauche, geht an der Realität der materiellen Produktion vorbei. Die Unterstützung von Revisions- und Änderungsprozessen gehört übrigens zu den wesentlichen Funktionen, die Softwaresysteme zur Steuerung der industriellen Entwicklung und Fertigung erfüllen müssen.
Dass die »Theoretiker der Null-Grenzkosten-Tendenz (Mason, Rifkin) […] dabei keineswegs Entwicklungs- und Anpassungskosten, Kosten für Speicher- und Übertragungsmedien digitaler Informationsgüter [übersehen]« trifft nicht zu: Bei keinem dieser Autoren findet sich ein auch nur annähernd der Realität gerecht werdendes Bild industrieller Entwicklungsprozesse — weder von Informationsprodukten noch von materiellen, geschweige denn von der Fertigung der letzteren. Dass in einer materiellen Produktion, die eine radikale Reduktion des Ressourceneinsatzes verwirklicht, die ein auf längere Sicht tragfähiger Stoffwechsel der Menschheit mit der Natur erfordert, der Fixkostendegression zwar immer noch eine bedeutende, doch wesentlich geringere Rolle zukommen wird, indem z. B. ein langlebiger Straßenbahnzug 300 kurzlebige Automobile ersetzt, scheint bei den Anhängern der »zero marginal cost society« noch nicht angekommen zu sein.
Die Sache mit dem Grundeinkommen
Was Blaschke zu der Hoffnung ermutigt, dass die »Entwicklungen digitaler Güter kostenfrei« erfolgen könnte, behält er für sich. Anscheinend ist es das Grundeinkommen, das die Leute massenhaft zu unbezahlter »kollaborativer« Produktion solcher Güter motivieren soll. Einmal abgesehen davon, dass offen ist, ob dies tatsächlich zur Produktion der erforderlichen Informationsgüter führen wird — gegenwärtig sind kapitalistische Unternehmen durchaus noch bereit, durch bezahlte Arbeit die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung und Stabilisierung zum Beispiel auch der offenen Softwareprodukte zu unterstützen, an denen sie ein Interesse haben —, ist dies genau der falsche Ansatz: das Grundeinkommen wird eben keine genügsame, ausschließlich ökologischen Imperativen folgende Gesellschaft hervorbringen.
Heiner Flassbeck trifft exakt den entscheidenden Punkt, wenn er, mit Bezug auf die jüngst erwachte Liebe von Leuten wie dem Siemens-Chef Joe Kaeser zum Grundeinkommen, feststellt, dass »genau an dieser Stelle […] der Topmanager und seine neoliberalen Kollegen sehr geschickt und mit großem Erfolg einen gewaltigen Keil in die Linke [treiben], so dass das herauskommt, was gerade nicht herauskommen darf: Mehr Produktion und weniger Konsum – und dreimal darf man raten, wer sich erhofft, dass er der große Nutznießer dieser Konstellation sein wird.«
Die Befreiung, die sich damit verbindet, ist die der Unternehmen davon, Löhne zu bezahlen, die — inklusive der daran zu knüpfenden Sozialtransfers — auch die Nachfrage nach den produzierten Gütern sichert. »Ein BGE wird kommen«, wie Paul Steinhardt, auf einen alten Schlager anspielend, formuliert, und eine perfektionierte neoliberale Hölle mit sich bringen, indem es mit ein paar Almosen die Ausgeschlossenen stillstellt, damit sie weiter von der »kollaborativen Ökonomie« träumen können, während die Exportmaschine Deutschland einen Gang höher schaltet.
Weltwirtschaftliche, ökologische, soziale Katastrophe
Was sich so in aller Stille vorbereitet, während die digitalen Utopisten im Verein mit den schwarz-grünen Liebhabern des Konsumverzichts und den Mainstream-Medien in der besten aller Welten wähnen, ist eine weltwirtschaftliche, ökologische und soziale Katastrophe. Wer die weltwirtschaftliche Katastrophe verhindern will, muss auch konsumieren oder gegen ausländische Ware tauschen, was er produziert, und »wer die Welt retten will, muss aufhören zu produzieren und dafür sorgen, dass politisch Vorkehrungen getroffen werden, dass das geschieht« [Flassbeck 2017].
Genau dies bedeutet, dass weniger, doch dafür haltbarere und besser genutzte Produkte hergestellt bzw. durch entsprechende Dienstleistungen bereitgestellt werden. Dies alles — und noch mehr die lebenslange Instandhaltung der Produkte — macht mehr Arbeit als die heutigen, kurzlebigen und in viel größeren Zahlen produzierten Dinge — Arbeit jedoch, die auch angemessen zu bezahlen ist, wenn sich diejenigen, die diese verrichten, es sich auch leisten können sollen. Dass es jenseits der sicher an Bedeutung verlierenden Arbeit in der materiellen Produktion wachsende Aufgabenfelder für humane Dienstleistungen gibt, die durch digitale Technik kaum zu verkleinern sind, macht ein Ende der Arbeit noch unwahrscheinlicher.
Anstatt, wie dies auch Kipping und Sitte tun, auf eine imaginäre »Digitalisierung« alle denkbaren utopischen Erwartungen in Form eines unverbindlichen Wunschkatalogs zu projizieren, wäre es an der Zeit, die anstehenden Aufgaben in Angriff zu nehmen. Neben Maßnahmen, die zu einer wirksamen Entlastung der Naturressourcen führen, gehört dazu die Verwirklichung des Menschenrechts, durch Arbeit Anerkennung und die Mittel zur Führung eines selbständigen und menschlichen Lebens zu erwerben. Das betrifft die Gestaltung wie die Bezahlung der Arbeit. Die Hoffnung auf ein digitales Nirwana mit Grundeinkommen wird die Linke mit Gewissheit weiter ins gesellschaftliche und politische Abseits führen.
Wer eine »Demokratie der digitalen Commons« herstellen möchte, darf nicht, in der Gewissheit, dass »über digitale Informationsgüter […] jede und jeder immer und überall verfügen [kann]«, allein die Konsumptionsseite betrachten und darauf hoffen, dass den Inhalt schon irgendjemand liefern wird, sondern muss sich auch Gedanken darüber machen unter welchen Bedingungen vielfältiger und reicher Inhalt aus unabhängigen Quellen entstehen kann. Wer nur fordert, dass »[…] ausschließende Nutzungsmöglichkeiten durch geistige Eigentumsrechte (Urheberrecht, Patentschutz, Rechtsdurchsetzung im Internet) abgeschafft werden [müssen]«, wird am Ende eine Informationswelt erhalten, in der die Inhalte im Vordergrund stehen, die denjenigen genehm sind, die über den Zugang zur digitalen Infrastruktur bzw. die größten finanziellen Mittel verfügen.
So sinnvoll, erstrebenswert und, mittels digitaler Technik, auch kostengünstig realisierbar ein Informationszugang für nahezu alle auch sein mag, sollte dies nicht zu Lasten derjenigen erfolgen, die Information erst erarbeiten und bereitstellen. Urheberrecht ist doch zunächst das Recht der die Werke Schaffenden, über deren Verwendung zu bestimmen sowie als Autoren anerkannt und honoriert zu werden. »Die Frage, wovon Kreativschaffende leben sollen, wenn nicht vom Urheberrecht, mit einem allgemeinen Verweis auf das bedingungslose Grundeinkommen zu beantworten, erscheint unbefriedigend«, meinte Ilja Braun schon 2014. Zu dieser Einsicht gelangt immerhin ein Autor, der dem Konzept wohlwollend gegenübersteht. Eine Gesellschaft, die auf jene Frage keine Antwort findet außer der, sie ins Belieben der Mächtigen und Reichen zu stellen, hat sich als demokratische bereits aufgegeben.
Rainer Fischbach arbeitet als Softwarexperte in der Industrie und befasst sich als Publizist mit dem Zusammenhang von Technik, Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft. Zuletzt erschien von ihm: »Die schöne Utopie: Paul Mason, der Postkapitalismus und der Traum vom grenzenlosen Überfluss« bei Papy Rossa (Köln 2017).
Literatur
Blaschke, Ronald 2917a: Eine Commonistische Ökonomie. neues neutschland, 14. Juni https://www.nd-aktuell.de/artikel/1054150.eine-commonistische-oekonomie.html
Blaschke, Ronald 2917b: Eine Commonistische Ökonomie II. neues neutschland, 26. Juni https://www.nd-aktuell.de/artikel/1055361.eine-commonistische-oekonomie-ii.html
Braun, Ilja 2014: Grundeinkommen statt Urheberrecht?: Zum kreativen Schaffen in der digitalen Welt. Bielefeld: transkript
Fischbach, Rainer 2016: Mensch—Natur--Stoffwechsel: Versuche zur politischen Technologie. Köln: PapyRossa.
Fischbach, Rainer 2017a: Die schöne Utopie: Paul Mason, der Postkapitalismus und der Traum vom grenzenlosen Überfluss. Köln: PapyRossa (Neue kleine Bibliothek; 238).
Fischbach, Rainer 2017b: Ökonomie im Kontext des menschlichen Naturverhältnisses. Makroskop, 21./25. April. https://makroskop.eu/2017/04/oekonomie-im-kontext-des-menschlichen-naturverhaeltnisses-1/
Flassbeck, Heiner 2017: Wie man das Volk betrügt. Makroskop, 30. Juni. https://makroskop.eu/2017/06/grundeinkommen-umweltschutz-und-digitalisierung-oder-wie-man-das-volk-betruegt/
Kipping, Katja; Sitte, Petra 2017: Potenziale der Emanzipation. neues neutschland, 8. Juni https://www.nd-aktuell.de/artikel/1053489.potenziale-der-emanzipation.html
Lixenfeld, Christoph 2015: Unbegrenzte Druckphantasien. CIO, November/Dezember, 20-23
Marx, Karl 1875: Kritik des Gothaer Programms. In: MEW 19, 11-32.
Marx, Karl 1939: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [1957/1858]. In: MEW 42.
Mason, Paul 2015: Postcapitalism: A Guide to our Future. London:Penguin.
Rifkin, Jeremy 2015: The Zero Marginal Cost Society. New York: Palgrave Macmillan.
Robinson, Joan 1962: Economic Philosophy. Chicago: Aldine.
Steinhardt, Paul 2017: Ein BGE wird kommen. Makroskop, 7. Juli. https://makroskop.eu/2017/07/ein-bedingungsloses-grundeinkommen-wird-kommen/
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