Divide et Impera
Urvashi Butalia klagt an
At the stroke of the midnight hour, when the world sleeps, India will awake to life and freedom.« Die Rede von Jawaharlal Nehru am 15. August 1947, in der er stolz zu mitternächtlicher Stunde, wenn die Welt noch schlafe, das Erwachen Indiens zu Leben und Freiheit verkündete, gilt als eine der ganz großen Reden des 20. Jahrhunderts. Der Politiker des Indian National Congress und erste Premierminister des unabhängigen Indien ließ zugleich wissen: »Freedom and power bring responsibility.« Freiheit und Macht bedeuten auch Verantwortung. Seine Mahnung gründete auf historischer Erfahrung.
»Divide et Impera« war die Losung der Briten während ihrer 100-jährigen Kolonialherrschaft über den indischen Subkontinent. Und bestimmte auch den Geist des Indian Independence Act, des sogenannten Mountbattenplans, benannt nach dem letzten britischen Generalgouverneur und Vizekönig von Indien. Das Dokument bestimmte die Teilung der ehemaligen Kolonie entsprechend religiöser Bevölkerungsmehrheiten, Hindus oder Muslime, in Indien und Pakistan.
»Die politische Teilung Indiens führte zu einer der größten Erschütterungen der Menschheitsgeschichte«, klagt die indische Schriftstellerin Urvashi Butalia. »Innerhalb weniger Monate waren etwa zwölf Millionen Einwohner des Subkontinents unterwegs.« Zu Fuß, mit altersschwachen Lastwagen oder in und auf gefährlich überfüllten Zügen. Es kam zu gewaltsamen Übergriffen, Plünderungen, Brandschatzungen. Man schätzt, dass eine Million Menschen starben. Etwa 75 000 Frauen wurden vergewaltigt, oft auch von Angehörigen der eigenen Religionsgemeinschaft, informiert die in Delhi lebende Menschenrechtsaktivistin in ihrem Buch »Geteiltes Schweigen«.
Ihre Eltern stammten aus Lahore, sie wuchs mit deren Flucht- und Vertreibungsgeschichten auf. Doch erst im reiferen Alter erwachte die Frage, wie Menschen, die zuvor in einem Land, in derselben Stadt oder demselben Dorf gutnachbarlich zusammenlebten, entzweit werden und in ihrer Entzweiung einander schreckliche Dinge antun konnten. Über zehn Jahre führte die 1952 geborene Literaturwissenschaftlerin, die den ersten feministischen Verlag Indiens gründete, Interviews mit Zeitzeugen, Frauen, aber auch Menschen, die damals Kinder waren, sowie mit Kastenlosen.
Wie Familien auseinandergerissen wurden, andererseits Freundschaften über Grenzen erhalten blieben, wie Traumata bewältigt wurden oder eben auch nicht, wie entwurzelte Menschen sich ein neues Leben aufbauten und warum es noch Jahrzehnte nach dem Exodus immer wieder zu Orgien der Gewalt und Racheakten kam - all das versuchte sie ihren Gesprächspartnern zu entlocken. Entstanden ist ein erschütterndes wie aufklärendes Kompendium, das eine Lücke in der indischen Geschichtsschreibung füllt und zugleich uns Europäern aktuelle Mahnung sein sollte. Zu Recht wird Urvashi Butalia am 28. August, an Goethes Geburtstag, die Goethe-Medaille der Stadt Weimar verliehen.
Urvashi Butalia: Geteiltes Schweigen. Innenansichten zur Teilung Indiens. A. d. Engl. v. Martin Pfeiffer. Lotos Werkstatt. 239 S., br., 18 €.
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