Die grauen Herren von der FDP
Langzeitkonten sollen den Menschen die Zeit zurückbringen. In Wirklichkeit unterwerfen sie das Jetzt der Zukunft
Man wird den Verdacht nicht los, dass Christian Lindner ein Agent der Zeitsparkasse ist: Der graue Anzug, die graue Krawatte, die schwarz-weiße Optik der aktuellen FDP-Kampagne; dann diese Eile, wie sich Linder auf einem Plakat in Hast den grauen Mantel überwirft, nebenan der Slogan: »Nichtstun ist Machtmissbrauch«. Es wabert ein kalter Rauch durch diese Kampagne, als wäre die verklärte alte Bundesrepublik ins 21. Jahrhundert katapultiert worden: Linder gibt den grauen Herrn, bloß fescher, ohne Hut, Aktentasche und Zigarre.
In Michael Endes Märchenroman »Momo« von 1973 sind dies die Accessoires der Vertreter der Zeitsparkasse, die den Menschen mit dem Versprechen ihre Zeit raubt, sie mit Zins zurückzuzahlen: »Gesparte Zeit ist doppelte Zeit«. Mit demselben Versprechen wirbt die FDP um Wähler.
Im Wahlkampf streiten die Parteien über Renten, Jobs, Gerechtigkeit und Sicherheit. Wir werden, zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern, die Positionen unter die Lupe nehmen. Aber zunächst einmal nehmen wir wichtige Themen in den Blick, die im Wahlkampf keine wichtige Rolle spielen.
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Mit dem Argument Zeitsouveränität lockt die FDP in diesem Wahlkampf für das sogenannte Langzeitkonto: Darauf sollen Erwerbstätige Überstunden, Urlaubstage und ein Teil des Lohns ansparen. Der Clou ist, dass die Zeit in Geld umgewandelt und in Zukunft mit Zins zurückgezahlt wird. So sollen Erwerbstätige sich Auszeiten erarbeiten. Zwar gibt es Langzeitkonten bereits auf Grundlage betrieblicher Vereinbarungen. Die FDP will sie jedoch betriebsunabhängig einrichten. Unterstützung erhält sie von der SPD: Im »Weißbuch Arbeiten 4.0.« überlegt das Arbeitsministerium überlegt, Bürgern bei der Deutsche Rentenkasse ungefragt ein Zeitsparkonto einzurichten.
Die sklavische Logik des Zeitsparens unterwirft das Jetzt der Zukunft: Tage rasen dahin, das Leben erkaltet, schreibt Ende. In seinem Buch zapfen die grauen Herren den Menschen Lebenszeit ab: »Wir reißen sie an uns, wir speichern sie auf, wir brauchen sie, uns hungert danach«, geifern sie. Mit Unterzeichnung des Zeitsparvertrags wird den Menschen die Seele - ihr Organ für Zeitwahrnehmung - entrissen und in den gigantischen, unterirdischen Kältefrost-Bunkern der Zeitsparkasse eingelagert. Fortan schuften die Menschen, dem Trug verfallen, ihr Gespür für die Zeit wieder zu erlangen. Momo wird die Seelen schließlich befreien.
Die Zeitsparkasse war eine Allegorie auf die Beschleunigung des 20. Jahrhunderts. Nun wird sie Wirklichkeit. Die Hast hat den Menschen das Glück geraubt. Den Politikern raubt sie den Verstand: Die FDP beschwört derzeit einen Regierungsstil von verblüffend freimütigem Aktionismus herauf: »Digitalisierung First. Bedenken Second,« heißt es allen Ernstes auf einem Plakat - darauf ist Lindner abgebildet, wie er in rasendem Stillstand aufs Smartphone stiert. Wegen digitaler Kopflosigkeit wird über einen vom Internet katalysierten Faschismus diskutiert. Überzogen, vielleicht. Die FDP erklärt jeden Zweifel gleich zum Laster. Sie führt eine Hatz gegen die Nachdenklichkeit; bei genauer Betrachtung ist das eine Treibjagd auf die Demokratie. Denn zu den »checks and balances« jeder Verfassungsordnung müsste neben Gewaltenteilung auch Nachdenkzeit für Politiker und Bürger gehören.
Innehalten - »stop and think« - ist der Kern von Hannah Arendts politischer Ethik. Ihr fällt beim Eichmann-Prozess 1961 auf, dass der Holocaust-Architekt innerlich stumm war - nicht dumm, aber gedankenlos; im Regelnetz der Haftanstalt fühlte er sich ebenso geborgen, wie im Apparat der Nationalsozialisten. Doch frei fliegende Gedanken - Träumerein - würden ihn hilflos machen. Der Tagtraum ist politisch, weil er Regeln auflöst. Er bringt das Gewissen ans Licht.
Unter Zeitsparern ist der Tagträumer der Verbrecher, schreibt jedoch Ende, der sich 1945 mit 15 Jahren dem Widerstand anschließt. Die Geschichte der Widerstandsträumer ist nie geschrieben worden. Im Zentrum einer solchen Erzählung müsste Helmut James von Moltke stehen. In einer Tagebuchnotiz wird die widerständige Reglosigkeit dieses Träumers geschildert: »In einer Ecke sitzt, still in den Sessel zurückgelehnt, ein ernster Mann. Betrachtet aus großen Augen aufmerksam jeden Anwesenden. Er spricht wenig. Mischt sich kaum in die leidenschaftliche Unterhaltung... ›Wer war der Herr?‹ erkundige ich mich, als der schweigsame Unbekannte sich früher als alle anderen verabschiedet hat. ›Moltke. Graf Helmuth von Moltke. Unser bester Kopf.‹«
Bei den Treffen des Kreisauer Kreises sinniert Moltke über ein Europa der Regionen und die Zerschlagung der Nationen. Stauffenbergs Attentatsplan lehnt er ab: »Warten ist eben viel schwieriger als Handeln.« Am Ende wird selbst der Volksgerichtshof in seinem Urteil feststellen, dass Moltkes Vergehen war, Dinge zum Thema gemacht zu haben, die im »ausschließlichen Zuständigkeitsbereich des Führers« lagen. »Wir werden gehenkt,« schreibt Moltke im Abschiedsbrief, »weil wir zusammen gedacht haben.«
Wenn alle mitmarschieren, wird der Träumer durch Nichtstun zum Hindernis. Die Hastigen aber reißt es mit. So stellte kürzlich eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung fest, dass ausgerechnet AfD-Wähler überdurchschnittlich häufig angeben, am Arbeitsplatz gehetzt, kontrolliert und zu höherer Leistung getrieben zu werden.
Nur hoffnungslos Langsamen gelingt es, sich gegen die beschleunigte Mitwelt zu stemmen. Zumindest ist dies die Lehre aus Sten Nadolnys Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«. Mit dem Ziel, die Welt vor den Gehetzten zu beschützen, entwirft Nadolny eine genial-aberwitzige Ordnung, in der die Schnellen zwar als Kutscher oder Parlamentsabgeordnete ihren Dienst verrichten, doch nur die Langsamen - durch ein staatliches Messverfahren bestimmt - das Wahlrecht erhalten: »Gerade der Langsame weiß nach vier Jahren treffend zu beurteilen, was sich geändert hat und wie ihm mitgespielt worden ist.«
Langsamkeit und Träumerei müssten als Verfassungsgüter gelten. Sie befreien die Urteilskraft, schärfen den Möglichkeitssinn und fördern das Gewissen zu Tage. Wenngleich die Grünen mehr »Zeitsouveränität« für Beschäftigte einfordern und die Linkspartei ein Recht auf Arbeitszeitverkürzung ankündigt, hat keine Partei die Gravität von Zeitpolitik erkannt.
»Ich habe ihnen das alles erzählt, als sei es bereits geschehen«, schreibt Ende im Nachwort seiner Geschichte, in der nur Momo der Lockung des Zeitsparens widersteht »Ich hätte es aber auch so erzählen können«, schreibt er weiter, »als geschehe es erst in Zukunft.«
Wir waren gewarnt.
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