Zehntausende Behinderte dürfen nicht wählen
Bundesbeauftragte: Wahlausschlüsse »völlig absurd« / Grüne: »Reicht nicht, das öffentlich zu fordern« / Union und SPD haben Änderung gerade abgelehnt
Viele Menschen mit Handicaps sind in der Bundesrepublik von Wahlen ausgeschlossen. Daran gibt es seit langem Kritik. Nun verlangt die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, eine rasche Zulassung aller Menschen mit Behinderung zu den Wahlen. Für die Abstimmung über den neuen Bundestag im September kommt das aber zu spät. Betroffen sind laut einer Studie aus dem vergangenen Jahr rund 85.000 Menschen.
»Ich habe die Erwartung, dass dieses Thema nicht weiter auf die lange Bank geschoben wird, sondern in den nächsten Koalitionsvertrag aufgenommen und dann vom neuen Bundestag schnell angepackt wird«, sagte Bentele der Deutschen Presse-Agentur. Wahlrechtsausschlüsse seien »völlig absurd« - auch wenn es sich um Menschen mit Behinderung handele, die in allen Angelegenheiten unter Betreuung stünden.
Im Bundeswahlgesetz von 1956 wird das Grundrecht, zu wählen, eingeschränkt. Nach Paragraf 13 ist vom aktiven und passiven Wahlrecht unter anderem derjenige ausgeschlossen, »für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer ... bestellt ist«. Dazu kommen Menschen, die im Zustand der Strafunfähigkeit eine Straftat begangen haben und in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind.
Von der Bundestagswahl 2013 waren rund 84.550 Personen aus diesen Gründen ausgeschlossen. 96,1 Prozent von ihnen sind »dauerhaft Vollbetreute«, 3,9 Prozent »schuldunfähige Straftäter«. Das sind im Verhältnis zu den fast 62 Millionen Wahlberechtigten für die kommende Bundestagswahl zwar wenige. Aber es geht ums demokratische Prinzip. Und auch in den Bundesländern dürfen sie bei weitem nicht überall an die Wahlurnen. Nur in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ist dies möglich, Berlin plant eine entsprechende Änderung.
Der Wahlausschluss ist gewissermaßen die »automatische« Folge, wenn Menschen ihre Angelegenheiten nicht selber regeln können oder dürfen »und ihnen deshalb in allen Bereichen eine Betreuerin oder ein Betreuer zur Seite gestellt wurde. Oder weil sie in einer psychiatrischen Klinik sind, da sie im Zustand der Schuldunfähigkeit eine rechtswidrige Tat begangen haben«, heißt es beim Sozialministerium.
Ministerin Andrea Nahles von der SPD hatte es bei der Vorlage einer Studie über die Wahlausschlüsse von Menschen mit Behinderungen und anderen als »aufrüttelnd« bezeichnet, wie viele betroffen sind. »Auch die ungleiche regionale Verteilung« sei erschreckend, so die Sozialdemokratin. Laut der Studie im Auftrag ihre Ministeriums zeigte sich, »die Zahl der Menschen, denen dieses verfassungsmäßige Recht aufgrund der Vollbetreuung verwehrt bleibt, ist zum Beispiel in Bayern pro 100.000 Personen 26mal so hoch wie in Bremen«.
Nahles hatte seinerzeit erklärt, sie sei der »Überzeugung: Alle Menschen, die dazu in der Lage sind, müssen wählen dürfen. Technischer Fortschritt und Assistenz machen vieles möglich«. Sie verwies auch auf 14 andere EU-Staaten, »die entweder ein Wahlrecht haben, das unabhängig von Rechts- und Handlungsfähigkeit oder Betreuung gewährt wird, oder bei denen der Wahlrechtsausschluss auf einer richterlichen Entscheidung beruht, die sich explizit auf das Wahlrecht bezieht«.
Sollten Menschen eine derart schwere Beeinträchtigung haben, »dass sie trotz Assistenz zu einer eigenen Wahlentscheidung nicht in der Lage sind«, müsse ein Ausschluss »im Einzelfall durch richterlichen Beschluss festgestellt werden. Nur dann kann ihnen das grundlegende demokratische Recht der Wahl vorenthalten werden«, so die SPD-Ministerin. Das war im Juli 2016. Die Wahlausschlüsse für Behinderte gibt es immer noch.
Bei den Grünen verweist man denn auch darauf, dass die Verantwortung für die Wahlausschlüsse von Menschen mit Behinderungen bei SPD und Union liegt. »Es reicht nicht, das öffentlich zu fordern«, sagte die Abgeordnete Britta Haßelmann unlängst - und verwies darauf, dass die Koalitionsfraktionen »noch vor der parlamentarischen Sommerpause einen entsprechenden Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen dazu abgelehnt« hätten. Die Wahlausschlüsse seien »durch nichts zu rechtfertigen«.
Auch die Linkspartei setzt sich für ein Ende der Wahlausschlüsse ein. »Das selbstverständliche Recht zu wählen ist – unabhängig vom Gesundheitsstatus – für Menschen mit und ohne Behinderungen zu wahren«, lautet eine der Forderungen der Partei.
Bentele meint nun, diese Zustände stehen weder im Einklang mit den Menschenrechten im Allgemeinen noch mit der UN-Behindertenrechtskonvention im Speziellen. »In meine Augen muss eine Demokratie aushalten, dass Menschen ihre Wahlentscheidung auf ganz unterschiedliche Weise treffen, egal wie und von wem sie unterstützt werden«, so die Behindertenbeauftragte. mit Agenturen
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.