Im schwärzesten Winkel

Mit dem Wiedererstarken des völkischen Denkens hat heute auch die Rede vom »Asozialen« wieder Konjunktur

  • Jasper Nicolaisen
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Paddelurlaub mit Mann und Kind auf der Mecklenburger Seenplatte verläuft sehr idyllisch, bis ich beim Eisholen bemerke, dass der Campingplatzbetreiber mit einem Nazi zusammenhockt. Der Campingplatzbesitzer ist ein rundum netter Typ, der uns zwei Papas mit Kind seit Jahren ausgesprochen freundlich begegnet. Sein Kumpel trägt Kleidung der Marke Thor Steinar und hat den Schriftzug »Ehre und Treue« auf die Brust tätowiert. Die Alltäglichkeit, das Ungezwungene der zwei Biertrinker erschreckt mich.

Mit dem tropfenden Speiseeis in den Händen gehe ich zurück zum Kanu. Vor Jahren, fällt mir ein, da war unser Sohn noch gar nicht bei uns, sind wir mitten in der Wildnis zwischen Waren und Rheinsberg auf die Ruinen eines Konzentrationslagers gestoßen. Das nahe gelegene Frauen-KZ Ravensbrück bei Fürstenberg ist recht bekannt und als Gedenkort erschlossen, wir aber wurden erst durch ein handgemaltes Schild am Flussufer auf das KZ Uckermark aufmerksam. Ein Trampelpfad führte durch sumpfiges Gelände, vorbei an urzeitlich wirkenden Farnen. Die gleichen Menschen, die das Schild ans Ufer gehängt hatten, mussten auch die Kästchen mit Informationsmaterial angebracht haben. In einem von ihnen befand sich inzwischen ein Wespennest. Aus den Prospekten einer Gedenkinitiative erfuhren wir das Wichtigste: Arbeitslager für Mädchen und junge Frauen, mitten in der Einöde, Unmöglichkeit einer Flucht, Insassinnen waren Geiseln, die als Druckmittel gegen die Mütter in Ravensbrück verwendet wurden, vergessenes Lager. Hinter dem rostigen Zaun Barackenreste, Schutthalden, Trümmer von Möbelstücken, Gras, Blumen, Mücken und überall Wind. Gerade weil das Gelände überhaupt nicht musealisiert war, hatte es damals auf uns besonders eindrücklich gewirkt. Wer hier fortgelaufen wäre, wäre von der Wildnis verschluckt worden.

Dann fielen mir die Worte wieder ein, die auf dem kleinen Informationsblatt gestanden hatten: »asozial« und »sexuell verwahrlost«. Mit diesen hatte man die Mädchen und jungen Frauen im KZ Uckermark beschuldigt. Ich meinte, die Blicke des Campingplatzbesitzers und seines Kumpels im Rücken zu spüren, als ich zu meiner Familie ins Kanu kletterte.

Das beunruhigende Erlebnis ließ mich auch zu Hause nicht los. Jetzt, Jahre später, las ich, wenn das Kind im Bett war, nach, was es mit dieser Ruine in der Wildnis auf sich hatte.

»Asozial« war der Nazi-Begriff für Menschen, von denen angenommen wurde, dass sie dem »gesunden Volkskörper« durch unangepasstes Verhalten Schaden zufügen. Schon in der Weimarer Republik war sozialdarwinistisches und eugenisches Gedankengut weit verbreitet gewesen: »Arbeitsscheu« etwa sei eine erbliche Charaktereigenschaft, und um alle »Gesunden« davor zu schützen, müsse man solche »kranken« Individuen aussondern und geregelter Arbeit zuführen. Dieser Diskurs entzündete sich an den Verelendeten, die infolge des Ersten Weltkriegs, der Urbanisierung und Industrialisierung verstärkt in den Städten sichtbar wurden. Erst die Nazis aber entschlossen sich zu einer »Endlösung der sozialen Frage«. Wer zweimal eine Arbeit ablehnte oder die Arbeitsstelle nach kurzer Zeit wieder verließ, sollte in der »Aktion Arbeitsscheu Reich« verhaftet und in Arbeitslager gebracht werden. Der Tod durch Arbeit wurde dort zumindest in Kauf genommen. Richtete sich diese Repression zunächst hauptsächlich gegen männliche Wohnungslose oder »sozial auffällig Gewordene«, gerieten im Lauf der 1930er Jahre zunehmend Frauen und Mädchen ins Visier einer mörderischen Biopolitik. Anders als bei den Männern kreiste der Diskurs hier um Reproduktionsfähigkeit, Familiengesundheit und Sexualhygiene. Neben unregistrierten Prostituierten wurden vor allem Mädchen inhaftiert, die vermeintlich oder tatsächlich »häufig wechselnde Sexualkontakte« pflegten oder anderweitig nicht ins Frauenbild der Nazis passten. Schon die Unterstellung solcher »sexueller Verwahrlosung« konnte für eine Inhaftierung in einem Lager ausreichen und funktionierte so bestens als Drohung, um angepasstes Verhalten zu erzwingen. Die Rede war dann von »Schutzhaft« - »Schutz« für den Rest der »Volksgemeinschaft«, wohlgemerkt.

Die »Asozialen«, die im Lagersystem mit einem schwarzen Winkel auf der Häftlingskleidung gekennzeichnet waren, genossen unter den Wächtern, aber auch unter vielen der politischen Gefangenen Verachtung. Diese Verachtung wirkte bis weit in die Nachkriegszeit fort, gerade für die als »asozial« verfolgten Frauen und Mädchen. Eben weil die politische Verfolgung in ihrem Fall am Intimsten und scheinbar nur Persönlichen ansetzte, weil sich hier ein politischer Diskurs über die Rechte des Individuums gegenüber der Masse mit dem Begriffsinstrumentarium von Moral, Fürsorge und Medizin verschränkte, verschwiegen die Betroffenen oft aus Scham ihre Haft und konnten das erlittene Unrecht nur schwer als solches formulieren, geschweige denn als politische Verfolgung kennzeichnen.

BRD und DDR übernahmen die Bezeichnung »Schutzhaft« und das Selbstverständnis der Jugendlager als Einrichtungen der Jugendhilfe, die sich um vermeintlich schwer Erziehbare kümmerten. Erst in den 1980er Jahren erreichten Opferverbände in der BRD eine langsame Änderung dieses Geschichtsbildes und eine Anerkennung der einst als »asozial« Verfolgten als politische Häftlinge.

Von »asozialem Verhalten« ist in politischen Diskussionen bis heute noch gern die Rede. Mehr als der freundlich winkende Thor-Steinar-Träger im Urlaub gruselt mich der Bibliothekscomputer, der mir bei der Suche nach dem Begriff »asozial« weniger historische Werke als sehr zeitgenössische Bestseller anzeigt. Schon die Titel verraten, welche Gruppierungen heute wieder als »asozial« gelten sollen: Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger und andere auf staatliche Hilfe Angewiesene auf der einen, »skrupellose Manager« und »gierige Banker« auf der anderen Seite. In diesen Feindbildern überlebt - auch bei Linken - das völkische Denken von einem guten, vermeintlich »gesunden« »Wir«, das von unten und oben zugleich ausgenutzt, beraubt und »ausgesaugt« werde. Wie damals werden politisch erzeugte gesellschaftliche Verhältnisse unter Rückgriff auf psychologische und sozialpädagogische Diskurse als Folge von bloßen Charakterfehlern oder quasi-biologisch determiniertem Verhalten bestimmter Gruppen erklärt. Es ist das Andocken an den sogenannten gesunden Menschenverstand, das Auflösen des Politischen ins Ressentiment, das jeder und jede als ureigenes Gewusstes empfindet, das den Kampfbegriff des »Asozialen« so gefährlich und bei rechten und linken Querfrontlern so beliebt macht.

Wer Thor-Steinar-Kleidung trägt und sich Schriftzüge wie »Blut und Ehre« auf den Körper tätowiert hat, den sollte man nicht noch dort abholen, wo er sitzt. Gegenüber solchen, mit denen noch zu reden ist, ist es aber in Zeiten, in denen der völkische Populismus wieder erstarkt, nötig, Denkfiguren wie die des »Asozialen« zurückzuweisen. Wenn selbst aus den Reihen der Linkspartei zu hören ist, dass deutsche Arbeitnehmer vor ausländischen Billigheimern zu schützen seien, wenn die Eltern keine Rassisten sein wollen, aber meinen, dass »wir« ja nicht »die alle« aufnehmen könnten, weil das für »uns« unbezahlbar sei, wenn Arbeitslose »auf der faulen Haut liegen« und Dicke »die Gesundheitssysteme schädigen«, sollte man erst mal tief durchatmen - es ist nämlich eine Menge »sicher Gewusstes«, gegen das da anzutreten ist. Und was dann? Was werde ich sagen, ich Zweitpapa eines angenommenen Sohnes?

Ich werde versuchen zu sagen, dass die Rede vom »›Wir‹ gegen ›die‹« in die Irre führt, egal, ob »die« angeblich von unten oder von oben kommen. Dass es keine Faulen, Gefräßigen, Zügellosen, Gierigen und Promiskuitiven sind, die mich bedrohen, sondern eine Weltordnung, die es mir und den meisten Menschen unmöglich macht, die Arbeit sein zu lassen und zu tun, was uns gut tut, ohne Angst, dafür um die Existenz gebracht zu werden.

Ich werde es versuchen mit dem Bild eines vergessenen Lagers im schwärzesten Winkel der Wildnis vor Augen.

Die »Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V.« (www.gedenkort-kz-uckermark.de/) setzt sich für die Umgestaltung der Lagerruinen ein und veranstaltet vor Ort regelmäßig Informationsveranstaltungen.

Der jüngst erschienene Band »Sozialrassistische Verfolgung im deutschen Faschismus«, herausgegeben von Anne Allex, erschienen bei AG SPAK Bücher, beleuchtet die Historie der »Asozialenverfolgung« und liefert Biografien und Interviews.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.