Kollektive Erinnerung mit Lücken

In Rostock fand eine Gedenkwoche zu den Pogromen von 1992 im Stadtteil Lichtenhagen statt - die Bilanz fällt gemischt aus

  • Sebastian Bähr, Rostock
  • Lesedauer: 5 Min.

Das kleine Mädchen mit dem wachen Blick und den schwarzen Haaren kommt nicht weiter. Immer wieder schiebt es die Wortbausteine »Asyl«, »Recht«, »Neid«, »Mut« und »Angst« mit den Präpositionen »auf«, »zu« und »vor« hin und her. Zufrieden ist sie mit den so geschaffenen Kombinationen nicht. Die erwünschte Botschaft ist offenbar schwerer zu erreichen als gedacht. Auch ihr Vater probiert an der am Mittwoch neu angebrachten Gedenkstele vor der Rostocker »Ostsee-Zeitung« (OZ) sein Glück - und stellt dabei fest, wie schnell die Bedeutung bestimmter Wortreihen sich ändern kann. Der Unterschied zwischen Rassismus und Solidarität sind manchmal nur wenige Buchstaben.

Das Schiebespiel auf dem Steinkubus ist nur eines von fünf Werken der Künstlergruppe »Schaum«, die in Rostock im Rahmen der vergangenen Gedenkwoche zu den Pogromen von 1992 täglich enthüllt wurden. Die weiteren vier Kuben weihten die Bildhauer Alexandra Lotz und Tim Kellner am Rathaus, an der Polizeidirektion, am ehemaligen Standort des »Jugend-Alternativ-Zentrums« sowie vor dem »Sonnenblumenhaus« ein. Die Kunstwerke sollen zur Reflexion über die damalige Rolle der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe und Institution anregen sowie Diskussionen und Gedenken befördern.

Am Mittwochabend richtete sich der Blick der Rostocker Zivilgesellschaft auf die Verantwortung der Medien und der Polizei. Die lokale »Ostsee-Zeitung« (OZ) hatte zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. In dem mit rund 150 Besuchern voll besetzten Saal wurden alte Zeitungsartikel der Pogromtage ausgestellt. »Wir sehen die Gedenkwoche auch als Gelegenheit, vor der eigenen Haustüre zur kehren«, sagte der heutige Chef vom Dienst Jan-Peter Schröder, der 1992 bereits als Feuilletonredakteur in der »OZ« tätig war. Selbstkritisch räumte er gleich zu Beginn ein: »Unsere Kollegen sind nicht aus der Falle herausgekommen, den Sprachgebrauch der Einheimischen zu übernehmen.« Das »Grundrauschen« des Landes sei aber von einer »massiven politischen Kampagne« geprägt gewesen.

Tatsächlich spielten sowohl die lokalen wie auch die bundesweiten Medien vor 25 Jahren eine fatale Rolle beim Anheizen der rassistischen Stimmung. Wenige Tage vor den Angriffen zitierten die lokalen »Norddeutschen Neuesten Nachrichten« einen anonymen Anrufer mit den Worten: »In der Nacht vom Samstag zum Sonntag räumen wir in Lichtenhagen auf. Das wird eine heiße Nacht.« Die »OZ« ließ am 21. August Chris (22), Thomas (22) und Matthias (24) zu Wort kommen: »Die drei wollen davon wissen, dass die rumänischen Roma ›aufgeklatscht‹ werden sollen«, schrieb der zuständige Redakteur und ließ die Worte kommentarlos stehen. Lapidar besagte die Überschrift: »Lichtenhäger wollen Protest auf der Straße«. Selbst nach den Ausschreitungen zitierte die Zeitung noch verharmlosend eine »junge Frau«: »Ich habe das alles nicht gewollt, aber wenn die Herren Politiker jetzt endlich aufwachen (...), hat das alles vielleicht einen Sinn gehabt.«

Redakteur Jan-Peter Schröder erklärte, dass es zu dieser Form von Journalismus heute nicht mehr kommen würde, doch auch in der »OZ« arbeiten »Menschen mit verschiedenen Toleranzstufen«. Zur Prävention habe man etwa in Zirkeln darüber diskutiert, auf welcher »Grundlage« die eigene Berichterstattung erfolge. Aus dem Publikum regte sich Widerspruch. Die für die Stelen verantwortliche Künstlerin bedankte sich für den Artikel, den man über ihr Projekt geschrieben hatte - und fragte daraufhin, warum am selben Tag gerade auf der Nachbarseite ein umfassender Artikel den Positionen der AfD und Pegidas eine Plattform bot. »Ich frage da natürlich nach der Sensibilisierung, von der sie hier sprechen«, so die Künstlerin. »Da war eine gewisse Vielfalt drin«, antwortete der Chefredakteur Alexander Loew. »Ich sehe keinen Grund für eine Entschuldigung.« Die »OZ« hatte die AfD-Vorsitzende Frauke Petry in den vergangenen Tagen auch interviewt sowie zur Diskussion ins eigene Haus eingeladen. Ein anderer Gast kritisierte die direkte Einbindung von vermeintlich rassistischen Facebook-Kommentaren in aktuelle Printtexte der Zeitung.

Wolfgang Richter, der ehemalige Ausländerbeauftragte von Rostock, der damals mit vietnamesischen Vertragsarbeiten auf das Dach des »Sonnenblumenhauses« geflüchtet war, erklärte ebenfalls: »Manchmal wünsche ich mir, dass auch von Lokalzeitungen noch mehr hinterfragt wird, etwa zu den Reden, die (am Montag) gehalten wurden oder zur Abwesenheit des Oberbürgermeisters.« Ein Zuschauer hatte die zu Beginn der Woche von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) gehaltene Gedenkrede als »0815« kritisiert. »Die Vietnamesen, die fast verbrannt wären, wurden mit keinem Wort erwähnt.« Der Oberbürgermeister Rostocks, Roland Methling, schickte einen Vertreter zu den Veranstaltungen.

Auch der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU), und der Rostocker Polizeipräsident Thomas Laum kamen auf dem Podium zu Wort. Polizeichef Laum fand deutliche Worte: »Ich empfinde Scham, dass wir dazu beigetragen haben, dass sich Menschen in einer lebensgefährlichen Situation befanden.« Auf die Nachfrage, warum zwei Hundertschaften während der Ausschreitungen abgezogen wurden, sagte er: »Für mich ist diese Frage bis heute nicht geklärt.« Ein Zuschauer fragte Caffier, wie die aktuelle Abschiebepraxis mit den Lehren aus Lichtenhagen zu vereinbaren ist. »Das ist kein Stimmung anheizen, sondern geltendes Recht«, stellte der Minister klar.

Am Freitag hatte Caffier vor der Polizeiinspektion Rostock das Mahnmal mit dem Titel »Staatsgewalt« eingeweiht. Rund 20 linke Aktivisten setzten sich während der Gedenkrede mit einem Transparent auf den Boden und bezeichneten den Politiker als »Abschiebeminister«. Sie forderten Bleiberecht für Geflüchtete und einen Abschiebestopp.

Die Bilanz der Woche fällt gemischt aus: »Politik, Gesellschaft und Presse haben sich nur oberflächlich mit ihrer Rolle auseinandergesetzt und Betroffene hatten nur wenig Gelegenheit, sich zu äußern«, sagte Imam-Jonas Dogesch, Sprecher des Migrantenrates Mecklenburg-Vorpommerns, gegenüber »nd«. Die Aufstellung der dezentralen Gedenkstelen sei jedoch ein »Erfolg«. Wachsamkeit bleibe dabei wichtig: Rassistische Versammlungen wie 2016 im Stadtteil Groß-Klein würden zeigen, dass »pogromartige Ausschreitungen immer wieder stattfinden können«.

Die offizielle Gedenken ist so zwar einen Schritt weiter gekommen, weist aber immer noch Lücken auf. In der Kurzchronik der Hansestadt im Statistischen Jahrbuch fehlt das Jahr 1992. Ebenso wie das Jahr 2004, in dem Mehmet Turgut in Rostock vom NSU erschossen wurde. Unbekannte hatten zwei der aufgestellten Marmorstelen in der Nacht zu Donnerstag mit Farbe beschmiert.

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