Stoff für Pannenmeiler
Atomkraftgegner aus mehreren Ländern wollen in Lingen gegen Brennelementefabrik und Atomwirtschaft demonstrieren
Zehntausende beteiligten sich Ende Juni an der Menschenkette von Aachen zum belgischen Pannen-Atomkraftwerk Tihange. Diesen Schwung will die Anti-AKW-Bewegung nutzen. Mehr als 60 Initiativen und Verbände aus den Niederlanden, Belgien und Deutschland rufen für den 9. September zu einer Demonstration in Lingen auf. Die emsländische Kleinstadt beherbergt eine Brennelementefabrik des französischen Atomkonzerns Areva. Nahe der Stadtgrenze produziert das AKW Emsland Strom und Atommüll, auch die Uran-Anreicherungsanlage im westfälischen Gronau ist nicht weit entfernt. Während das Atomkraftwerk noch bis 2022 am Netz bleiben soll, verfügen die beiden Fabriken über unbefristete Betriebsgenehmigungen.
In Lingen wird in einem chemischen Prozess zuvor in Gronau oder anderen Anlagen angereichertes Uranhexafluorid zunächst in Uranoxid umgewandelt, zu Pulver gestampft und zu sogenannten Pellets gepresst. Diese werden dann auf bestimmte Abmessungen geschliffen, in Rohre gefüllt und zu Brennelementen montiert. Außerdem gibt es auf dem Gelände in Lingen Lagerbereiche für Brennstäbe, Uranhexafluorid und radioaktive Abfälle.
Die Brennelemente-Fabrik sei »ein Drehkreuz der internationalen Atomindustrie«, bemängelten Aktivisten am Mittwoch bei einer Pressekonferenz. Radioaktives, giftiges Uran werde aus Afrika und Russland importiert, frische Brennstäbe würden in alte, marode Atomkraftwerke exportiert. Auf der Lieferliste der Fabrik stünden AKW wie Doel und Tihange in Belgien - in diesen Reaktoren hatten Experten zahlreiche Risse festgestellt, ihr Betrieb gilt als riskant, selbst die Bundesregierung möchte, dass sie abgeschaltet werden. Auch die französischen Uralt-Reaktoren Fessenheim und Cattenom, der störanfällige Siedewasserreaktor in Leibstadt (Schweiz) und das schwedische AKW Forsmark bekommen frischen »Brennstoff« aus Lingen.
»Die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger sowie ihre Sicherheit hat Vorrang vor der Freiheit des Warenverkehrs in den Ländern der europäischen Union«, sagt Angelika Claussen von der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW. Peter Bastian vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen forderte Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) auf, die Exportgenehmigung für Brennelemente aus Lingen zurücknehmen. Sonst mache sie sich im Fall eines schweren Unfalls in den »gefährlichen Pannenreaktoren« mitschuldig. Inzwischen fordern übrigens selbst die nordrhein-westfälische CDU und der aus Aachen stammende Ministerpräsident Armin Laschet ein Exportverbot für die Lingener Brennelemente nach Belgien. Nach einem von IPPNW in Auftrag gegebenen Gutachten könnte Hendricks einen Exportstopp für Brennelemente zu den als unsicher geltenden Atomkraftwerken in den Nachbarländern rechtssicher verfügen.
Gerd Otten vom Elternverein Restrisiko Emsland sagte, die Menschen in der Region würden schon viel zu lange von den Atomanlagen in der Region bedroht. Immer wieder habe es Pannen im AKW Emsland und in der Brennelemente-Fabrik gegeben. Christina Burchert vom Arbeitskreis Umwelt Schüttorf zeigte sich überzeugt, dass die Ablehnung des der Brennelementefabrik und des nahen AKW in und um Lingen in den vergangenen Monaten zugenommen hat: »Aus der Grafschaft Bentheim sind im Juni viele Menschen zur Anti-Atomkraft-Menschenkette von Aachen bis zum AKW Tihange gefahren. Viele von ihnen werden an der Demonstration in Lingen teilnehmen. Uns treibt die Sorge vor dem fehlenden Katastrophenschutz um, wer uns Menschen nicht schützen kann, muss die AKW abschalten, sofort.«
Bei der Kundgebung am 9. September wollen den Angaben zufolge auch Gäste aus Belgien, Russland, Tansania und dem Niger sprechen - in diesen afrikanischen Ländern gibt es große Uranvorkommen. Bereits im Herbst des vergangenen Jahres hatten rund 1.000 Menschen gegen die Lingener Brennelemente-Fabrik und das nahe gelegene Atomkraftwerk Emsland demonstriert. Auch am Jahrestag der Fukushima-Katastrophe im März gab es in der Stadt Proteste.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.