Die geballte Macht der Bläser
»Young Euro Classic« im Konzerthaus Berlin
Das gebotene Programm kehrte die Verhältnisse beinahe um. Was einmal »musikalischer Progress« hieß, ist heute völlig außer Kurs. Aber hohe Qualitätsunterschiede in Form, Struktur und Gehalt der Musik bestehen weiter. Seit 17 Jahren ist das 20. Jahrhundert Geschichte. Was diese verstrichene Zeit an neuer Musik brachte, ist klein gegen die Wucht und Eleganz der Gedanken und technischen Neuerungen der Besten, Kühnsten im 20. Jahrhundert. »Young Euro Classic« bewies es in einem einzigen Konzert, dem offenkundigen Höhepunkt des Festivals. Auf dem Programm standen Arnold Schönbergs »Begleitmusik zu einer Lichtspielscene« für Orchester (1930), das Klavierkonzert in F von George Gershwin (1925), Béla Bartóks 1919 komponierte Orchestersuite »Der wunderbare Mandarin« und schließlich - das älteste Werk des Abends - Maurice Ravels Ballettsuite »Daphnis et Chloé« für großes Orchester (1907/12). Eine Revue der Besten, damals auch Strittigsten, heute keineswegs Vergessenen.
Mit dem Gustav Mahler Jugendorchester kam die Stringenz dieses Programms erst richtig in Fahrt. 2000 junge Musikerinnen und Musiker bewerben sich jährlich um einen Platz in dem exquisiten Ensemble, 100 schaffen es, nominiert zu werden. Strengste Auslese, die sich allemal auszahlt. Die Ohren strahlen jedes Mal, hören sie die jungen, hochversierten und engagierten Genies spielen. An dem Abend musizierten sie, ohne es zu wissen, das 21. Jahrhundert regelrecht an die Wand. Der Clou: Mit Ingo Metzmacher dirigierte ein Künstler, der Michael Gielen und Pierre Boulez, als sie noch lebten, von jeher Konkurrenz gemacht hat in dem Bestreben, neue Musik des 20. Jahrhunderts mustergültig aufzuführen.
Schönbergs »Begleitmusik zu einer Lichtspielscene«, kaum aufzufinden in den Repertoires hierzulande, - das Zwölf-Minuten-Stück ist sperrig, unangenehm, sicher kein Fall für romantische Gemüter - erklang so klar und radikal in den einzelnen Stimmen und Klanggruppen, dass Schönbergs strukturelle Absichten komplett zur Geltung kamen. Aber das Stück hat zugleich eine klare geistige Kontur. Die Epoche enthüllt sich darin, Angst als Signum der Zeit klingt grell auf; Vorboten dessen, was aus den Schößen der Verachtung alles Menschlichen kommt, bringt die zwölftönige Konstruktion ebenso scharf wie untrüglich zur Geltung. Die drei Teile tragen die Überschriften: Drohende Gefahr - Angst - Katastrophe. Schönberg ist klug, seine Musik ist oft klüger als er. Die »Lichtspielscene«-Musik von 1930 hat den 30. Januar 1933 so sehr im Visier wie das Ende der Hitler-Epoche. Staunenswert, wie die in allen Belangen spannende Aufführung dies vernehmlich zu machen wusste.
Mit Gershwins Klavierkonzert in F konnte der Kontrast kaum größer sein. Das zweiteilige Stück hat einen enormen spielerischen, solistischen Radius. Den füllte der französische Pianist Jean-Yves Thibaudet souverän aus. Gershwin ist hier keineswegs nur melodisch in bester Laune, indem er Modelle des Swing, des Folk und der Klassik virtuos zur Einheit führt. Es trägt symphonische Züge. Locker gefügt, kommt es sogar zu orchestralen Auftürmungen, und das Finale des ersten Satzes macht fast glauben, ein Beethoven oder Brahms sollte mit einem gewissen Lächeln übertroffen werden. Den US-amerikanischen kulturellen Aufbruch in den Großstädten der 1920er Jahre und das, was deren Rückspiegel musikalisch zeigen, fängt diese Musik sehr ohrenfällig ein.
Kann Musik als Kunst den Leuten zusetzen? Allemal. Eine Kanonade an Orchestermusik brach mit Bartóks Suite »Der wunderbare Mandarin« über sie herein. Ein Nachkriegs-Opus (1919). Das Werk, gleichfalls Reflex auf Großstadttreiben und explosionsartig geformt, fand in der Zeit der Aufstände und Revolutionen in Europa keinen Widerhall. Uraufgeführt wurde es erst 1924 in Köln, jener seinerzeit stinkkatholischen Stadt, die das Werk auspfiff. Bartók schrieb die Partitur auf eine Pantomime. Die handelt im kriminellen, lasterhaften Milieu. Ein Mädchen unterliegt der Zuhälterei geldgieriger Schwerenöter und muss mit dem in sie verliebten Chinesen Mandarin in den Tod gehen. Was Bartók mit dem »Mandarin« vorgelegt hat, ist wahrhaft geschichtlich zu nennen. Die Musik bewegt mit wenigen Ausnahmen auf der Schwelle zur Atonalität, die Schönberg wenig zuvor mit seinen fünf Orchesterstücken op. 16 zum Sieden gebracht hatte. Der Ungar steht dem im »Mandarin« kaum nach. Was die geballte Macht der Bläser am Anfang tut, ist die Wiederkehr der Klänge jener grausamen Feldschlachten und Stellungskriege, die der I. Weltkrieg der Menschheit bescherte. Und das Finale, das alle Möglichkeiten des Orchesters noch einmal abruft, ist eine einzige Rebellion dagegen. Bartóks Werke fehlten in der Nazi-Ausstellung »Entartete Musik« 1938. Als er davon erfuhr, schrieb er einen Anklagebrief an das Ribbentrop-Außenamt, er verlange, dass seine Werke dort gezeigt werden. Den »Mandarin« hatten die Schwerverbrecher schlicht übersehen.
Der ganze Elan, die vollständige Könnerschaft des Mahler Jugendorchesters wurde spürbar auch im Schlussstück, Ravels »Daphnis et Chloé«-Orchestersuite. Die wunderbar farbige, erfüllte Musik wird immer wieder gern aufgeführt. Hier trug die Wiedergabe den Stempel der Jugend - einer, die bewusst zurückschaut, die im Vergangenen einen Schatz sieht, der stets neu ins Licht zu stellen ist. Musik des 20. Jahrhunderts ist für diesen außerordentlichen Klangkörper eine Potenz der Zukunft.
Das Festival schließt am 3. September mit dem Auftritt des Cuban-European Youth Orchestra, 20 Uhr, Konzerthaus Berlin, Gendarmenmarkt
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