An der Mitte vorbei
Erwerbstätige wollen soziale Sicherheit, für ihre Wahlentscheidung könnte aber dieses Jahr anderes wichtiger sein
Die Mittelschicht gilt als Rückgrat der Gesellschaft, ihre Stabilität und Stimmung deshalb als besonders wichtig. So verschieden sie auch definiert wird, klar ist, dass sie den Großteil der Bevölkerung umfasst. Wahlen werden in der Mitte gewonnen: Schon deshalb sind Parteien bemüht, sich als ihre Interessenvertreter darzustellen. Und das Interesse der Mittelschicht ist, gemessen am Inhalt vieler Wahlkampfreden, von drückenden Steuern und Sozialabgaben entlastet zu werden.
Das Ehepaar Karras ist allerdings zufrieden mit seinem Einkommen, mehr Netto vom Brutto ist jedenfalls nicht sein dringendster Wunsch. Ist das typisch?
Im Wahlkampf sagen Politiker gern, was die Wähler wollen. Wir haben Bürgerinnen und Bürger selbst gefragt, was ihnen wichtig ist und was sie von der Politik erwarten. Wir haben die Versprechen der Parteien genauer angeschaut und nach guten Lösungen im Sinne der Bürger Ausschau gehalten.
Dafür hat “nd” folgende Menschen getroffen:
nd hat getroffen: einen Hochschulangestellten aus Cottbus, einen Kitaerzieher aus Gifhorn, einen Facharbeiter aus Berlin, eine geflüchtete Frau aus Syrien, einen Niedriglohnbeschäftigten aus Berlin, einen Wohnungslosen aus Hannover, einen Rentner aus Berlin, einen Studierenden aus Kassel, eine Erwerbslose aus Löbau (erscheint am 22. September).
Lesen Sie diese und viele weitere Texte zur Bundestagswahl 2017 unter: dasND.de/btw17
Mit Sicherheit ist es nicht untypisch, folgt man Gert Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Wichtiger als die eigene steuerliche Belastung sei die gefühlte Gerechtigkeit - nämlich ob die, die richtig viel verdienen, auch »richtig« viel davon abgeben müssen. Dass dies in Deutschland nicht der Fall ist, erklärt für Wagner einen großen Teil des vorhandenen Ungerechtigkeitsgefühls der Bundesbürger.
Was sich anhand des Soziooekonomischen Panels herausfinden lässt: Werden die Menschen danach gefragt, was Lebensqualität für sie bedeutet, dann nennen die Befragten besonders oft die Begriffe »sicher« und »sozial«. Häufig werden die beiden Wörter gemeinsam genannt. Die soziale Sicherung werde also als Kernthema der Lebensqualität aufgeführt, schlussfolgert Wagner. Nur wahlentscheidend scheinen diese Themen in diesem Jahr nicht zu sein. Denn fragt man die Menschen danach, was für sie gegenwärtig Priorität hat, dann werden soziale Gerechtigkeit sowie die Höhe und Verteilung von Einkommen nur selten genannt, berichtet eine Autorengruppe zusammen mit Gert Wagner. Selbst bei Anhängern von LINKEN, Grünen und SPD spielen demnach Gerechtigkeitsaspekte eine geringere Rolle, als es die aktuelle Agendasetzung der Parteien erwarten lassen würde. Wahrscheinlich, weil die Mehrheit der Befragten nicht direkt betroffen ist, mutmaßen die Sozialforscher.
Eine jüngst veröffentlichte Umfrage stellte fest, dass sich zumindest Erwerbstätige sicherer fühlen als früher. »Der Anteil der Erwerbstätigen, die sich vor Abstieg fürchten, ist von 64 Prozent 2006 auf 33 Prozent zehn Jahre später gesunken«, sagt Holger Lengfeld von der Universität Leipzig. »Die Mittelschicht macht sich Jahr für Jahr weniger Sorgen um ihre Zukunft.« Hauptgrund: gesunkene Arbeitslosigkeit. Der Soziologe vermutet zudem einen Lerneffekt. Die Mitte habe Erfahrungen gesammelt, wie man mit den neuen Unsicherheiten des Arbeitsmarktes umgehen kann.
Dass jeder dritte Erwerbstätige Abstiegsängste hat, ist gleichwohl eine ganze Menge, wenn man bedenkt, wie wichtig Sicherheit für die Menschen ist. Es verweist darauf, dass trotz der Rekordbeschäftigung der Arbeitsmarkt durchaus Schattenseiten hat. So belegen Zahlen des Instituts für Arbeit und Qualifikation, dass 60 Prozent aller Niedriglohnbeschäftigten im Jahr 2015 eine abgeschlossene Berufsausbildung hatten und auch ein Hochschulabschluss nicht vor Niedriglöhnen schützt. Immerhin mehr als ein Zehntel der Geringverdiener sind Akademiker. Dennoch, betont Lengfeld, seien es in der Masse nicht Mittelschichtbürger, die von prekären Lebensumständen betroffen sind, sondern Ungelernte und Geringqualifizierte. »Da liegen die sozialpolitischen Probleme, nicht in der Mitte.«
Was ist der Mittelschicht wichtig? Die Antworten darauf variieren, je nachdem, ob man nach den aktuell brennendsten Problemen fragt oder nach langfristigen Orientierungen. Gegenwärtig am wichtigsten ist demnach die Bewältigung der Flüchtlingsbewegungen, berichtet die Autorengruppe um Gert Wagner. Hohe Bedeutung hätten auch die Sorge um gute Pflege im Alter und eine wirksamere Bekämpfung von Kriminalität. Auf längere Sicht finden die Menschen jedoch entscheidender, dass Demokratie, Frieden und soziale Gerechtigkeit gesichert sind. Was die Mitte beschäftigt, wird in den gegenwärtigen politischen Debatten vernachlässigt, ist Wagners Eindruck. In der aktuellen Ausgabe des Magazins »Zeitzeichen« skizziert der Sozialforscher sein persönliches Wahlprogramm für die Mittelschicht: Es würde eine hochwertige Pflege und Kinderbetreuung versprechen, die es Eltern erlaubt, regulär erwerbstätig zu sein; und ein Bafög, das ein Studium ohne Minijob ermöglicht. Das Programm würde aber auch vorsehen, hohe Einkommen und Erbschaften stärker zu besteuern, selbst wenn diese Punkte in diesem Jahr nicht den Ausschlag am Wahltag geben mögen. Denn für die langfristige Zufriedenheit mit dem Leben in Deutschland ist der Mittelschicht Gerechtigkeit ganz und gar nicht egal.
Offenbar ist auch das Thema Zuwanderung mit Gerechtigkeitsüberlegungen verknüpft. So ist ihre Begrenzung zwar kein »Lebensthema« für die Menschen, aber im Vergleich zur eigenen Situation wird die Aufnahme von Flüchtlingen oft als ungerecht empfunden. Die politische Kunst besteht den Sozialwissenschaftlern zufolge deshalb darin, die Wähler davon zu überzeugen, dass ihnen aus der Aufnahme Geflüchteter keine Nachteile in den Bereichen erwachsen, die für ihre Zufriedenheit im Leben besonders wichtig sind.
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