Das Lied von Karras

Arbeit kann das Leben belasten, selbst wenn das Gehalt stimmt

Liegt es an dem sperrigen Wort? Whistleblower. Für deutsche Zungen nicht leicht zu sprechen. Über jedes Thema der Welt gibt es ein Lied. Jeder Verein hat seine Hymne. Nur über deutsche Whistleblower gibt es nichts. Ingo Karras würde sich so ein Lied wünschen über mutige Menschen in der Republik, die von Missständen und Gesetzesbrüchen erfuhren, sie öffentlich machten und denen das nicht gedankt wurde. Er hat sich selbst schon einmal an einem Text versucht und dabei gemerkt, dass das wirklich nicht einfach ist mit dem Versmaß, zumal auch Namen drin vorkommen sollen. Der der Berliner Altenpflegerin zum Beispiel, die mit ihrer Kündigung bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen musste. Aber singen Sie mal »Brigitte Heinisch«.

Karras ist Ingenieur. Seit vielen Jahren hat er zwei halbe Stellen an der Universität Cottbus. Für einen Teil seines Jobs muss er regelmäßig auf den Campus ins 40 Kilometer entfernte Senftenberg pendeln. Seine Frau Adriena, in Tschechien geboren, ist Hausfrau. Sie haben einen erwachsenen Sohn, der Medien- und Kommunikationstechnik studiert. Jedes Wochenende kommt er zu Besuch. Karras verdient knapp 57 000 Euro im Jahr, - »nach Tarif, dank der Gewerkschaft« - davon können sie leben. Sie schwimmen nicht im Geld, aber sie müssen auch nicht knapsen - gehören zur Mittelschicht, die in Wahlkampfzeiten immer besonders umworben wird. Die CDU verspricht, der Mitte etwas Einkommensteuer zu schenken. Martin Schulz, Kanzlerkandidat der SPD, klagt, die »hart arbeitende Mitte« rackere sich ab und komme doch zu kurz. Und FDP-Chef Lindner sieht die Mittelschicht gar vom Staat »ausgeplündert«. »60 Prozent Steuern, Sozialabgaben, das ist fast DDR«, lästert er.

Wähler-Stimmen

Im Wahlkampf sagen Politiker gern, was die Wähler wollen. Wir haben Bürgerinnen und Bürger selbst gefragt, was ihnen wichtig ist und was sie von der Politik erwarten. Wir haben die Versprechen der Parteien genauer angeschaut und nach guten Lösungen im Sinne der Bürger Ausschau gehalten. 

Dafür hat “nd” folgende Menschen getroffen:

nd hat getroffen: einen Hochschulangestellten aus Cottbus, einen Kitaerzieher aus Gifhorn, einen Facharbeiter aus Berlin, eine geflüchtete Frau aus Syrien, einen Niedriglohnbeschäftigten aus Berlin, einen Wohnungslosen aus Hannover, einen Rentner aus Berlin,  einen Studierenden aus Kassel, eine Erwerbslose aus Löbau (erscheint am 22. September). 

Lesen Sie diese und viele weitere Texte zur Bundestagswahl 2017 unter: dasND.de/btw17

Karras sagt: »Wir haben ein gutes mittleres Einkommen.« Netto bleiben ihnen 2900 Euro im Monat. Sie sind zufrieden.

Vor zehn Jahren ist die Familie von Guben nach Cottbus gezogen. Sie hatten genug gespart, um sich eine Doppelhaushälfte kaufen zu können. Vier Zimmer, 120 Quadratmeter, ein kleiner Garten mit Bäumen, Blumen und Pavillon. »Ein Traum«, sagt Adriena. »Ich bin ja ein Plattenbaumädchen.« Im Alter müssen sie nun keine Miete mehr zahlen. Das Haus liegt etwas außerhalb des Zentrums, 20 Autominuten vom Bahnhof entfernt. Fast scheint hier die Stadt zu Ende, doch biegt man ein paar Meter weiter bei einem lichten Wäldchen um die Ecke, entdeckt man 5-stöckige Wohnblöcke locker verstreut zwischen Wiesenflächen, an deren Rändern Betonvierecke herausragen. »Das waren mal Parkplätze«, erklärt Karras. Früher standen hier viel mehr Neubauten, doch die wurden abgerissen, weil keiner mehr in ihnen wohnen wollte nach der Wende. »Es ist schön hier«, findet er.

Steuern rauf oder runter, Terror, Rente - die großen Wahlkampfthemen, es sind nicht seine. Andere sind dem 51-Jährigen wichtiger. Frieden an erster Stelle, aber auch Bürgerrechte und besonders ein Artikel des Grundgesetzes. Artikel 3, der Gleichbehandlungsgrundsatz. Dazu findet er in den Wahlprogrammen der Parteien zwar hier und da ein paar Sätze, sie werden es wohl aber nirgendwo auf ein Plakat schaffen. Politik ist Karras wichtig, aber statt in einer Partei, engagiert er sich lieber in der örtlichen Attac-Gruppe. Sein Wunsch von der nächsten Regierung: »Ein Gesetz, das Whistleblower schützt.« Das hätte ihm vielleicht geholfen in seinem Konflikt mit der früheren Hochschulleitung.

Ingo Karras ist selbst ein Hinweisgeber. Vor fünf Jahren machte er Probleme an der Hochschule öffentlich und wurde deshalb fristlos gekündigt. Er ist zuständig für barrierefreies Studium und prangerte an, dass ein Dekan Sehbehinderte an seinem Institut nicht zulassen wollte. Versuche, das Problem auf dem Dienstweg zu lösen, fruchteten nicht. Und so machte es Karras auf einem Internetblog öffentlich. Die Lokalzeitung griff das Thema auf. »Ich dachte, nach dieser Eskalation setzen wir uns endlich an einen Tisch und klären das«, sagt Karras. Doch stattdessen schickte der damalige Hochschulpräsident seinen schwarzen Dienst-Mercedes zu ihm nach Hause. Mit der Kündigung. Karras wurde aus einer Lehrveranstaltung geholt. Hausverbot. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«

Der Vorwurf: Er habe dem Ansehen der Hochschule geschadet. Dabei hat er sich mit ihr identifiziert. »Das war ja meine Fachhochschule«, sagt Karras. Er hat aus der Geschichte einiges gelernt: dass die Hochschulleitung unter bestimmten Umständen - eine Hochschulfusion stand bevor - tun darf, was sie will. Ministerien lassen sie dann gewähren. Mitgenommen hat er auch, dass auf Personalräte nicht unbedingt Verlass ist - »obrigkeitshörig« - und dass es einige Kollegen gab, die sich für ihn einsetzten, viele aber schwiegen.

Ein Whistleblowerschutzgesetz versprechen Linkspartei, Grüne und die SPD. Im Regierungsvertrag der Großen Koalition findet sich ein windelweicher Prüfauftrag. »Seit die SPD in der Regierung ist, hat sie für Whistleblower nichts merklich unternommen«, findet Karras. »Ich fühle mich als Bürger nicht ordentlich geschützt.« Das meint er auch mit Blick auf die Speicherung von Vorratsdaten, die Union und SPD wieder eingeführt haben. Bewegt hat ihn in dieser Legislatur auch der NSA-Skandal. Für ihn bleibt der Eindruck, dass Geheimdienste in Deutschland schalten und walten können, wie sie wollen. Auch wenn die Koalition etwas anderes erklärt.

Adriena Karras erstaunt das nicht. »Politiker versprechen viel, aber sagen nicht die Wahrheit«, sagt die 58-Jährige. Für den Wahlkampf interessiert sie sich schon deshalb weniger, weil sie gar nicht wählen darf. Dafür müsste sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Die würde sie ohne Probleme bekommen, ihr Deutsch ist ausgezeichnet. Ihre Freunde in Tschechien sagen, sie sei längst eine Deutsche, spreche tschechisch mit deutscher Grammatik. Aber sie will nicht, obwohl sie bald 30 Jahre hier lebt. Karras kann das nicht so ganz verstehen. Er kämpft für Bürgerrechte, sie verzichtet auf eines. Aber ihr Nein klingt entschieden. »Ich schreibe doch keinen Test.« Sie empfindet das als Demütigung. »Ich kann sprechen«, das könne die Frau vom Amt doch sofort merken. Warum sollte sie also ihre Deutschkenntnisse überprüfen lassen und dumme Fragen nach deutschen Kanzlern und Bundespräsidenten beantworten? Schon der Gedanke macht Adriena verrückt. Zumal die Einbürgerung noch etwas kostet. 500 Euro alles in allem. Die hätten sie zwar, aber sie findet die Summe einfach unangemessen.

Adriena ist nicht schon immer Hausfrau. In Tschechien hat sie Ökonomie studiert, arbeitete in der städtischen Bauverwaltung, später in Guben auf Minijobbasis in einem Schuhladen. Zuerst trat sie kürzer, weil ihr Sohn klein war, dann pflegte sie ihre Eltern, pendelte ständig zwischen Deutschland und Tschechien. Sie macht die Einkäufe, er bringt das Geld nach Hause - es ist Herrn Karras ein bisschen unangenehm. »Ich bin emanzipiert aufgewachsen. Aber jetzt leben wir doch die traditionelle Arbeitsteilung«, sagt er entschuldigend.

Die Rente könnte ein Problem werden, besonders für Adriena. Doch darüber machen sie sich keinen Kopf. »Wir verdrängen das ein bisschen«, sagt er. »Was braucht man schon im Alter«, sie. Bei der Rente sind beide Pessimisten. »Unser Sohn wird wahrscheinlich keine mehr kriegen.«

Gegen seine Kündigung wehrte sich Karras. Es gab Soliaktionen von Unterstützern, bis zum Landesparlament ging der Fall. Elf Monate dauerte die Auseinandersetzung, bis er vor dem Arbeitsgericht Recht bekam. Ein Formfehler der Gegenseite nützte ihm. Karras musste wieder eingestellt werden. Seither ist er zurück auf seiner alten Stelle, wenngleich ohne den früheren Status als wissenschaftlicher Mitarbeiter. »Man könnte das für den Nachweis halten, dass der Rechtsstaat funktioniert.« Aber er würde nur unterschreiben wollen, dass es »die Chance auf Rechtsstaatlichkeit« gibt. Man braucht dafür Geld und Zeit. Mit der heutigen Hochschulleitung hat er kein Problem. Aber die Erfahrung dieser Monate lässt ihn nicht los. Seither arbeitet er im bundesweiten Whistleblower-Netzwerk mit.

In seinem Haus, im Durchgang zwischen Esszimmer und Küche, steht eine Gitarre an die Wand gelehnt. »Das habe ich mir für die Rente vorgenommen, richtig spielen lernen.« Das ist noch eine Weile hin, aber vielleicht gibt es bis dahin die Whistleblowerhymne, die sich Karras wünscht.

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