Nackte Körper, behaarte Gesichter
Das 29. Berliner Festival »Tanz im August« ist Geschichte. Eine Bilanz
Nach 23 Tagen Spieldauer ist die diesjährige Ausgabe von »Tanz im August« in die Festivalhistorie eingegangen, und zwar nicht als der schlechteste Jahrgang. Der vorweg von Kuratorin Virve Sutinen formulierte Anspruch, das Spannendste aus der Tanzwelt zu präsentieren, konnte zwar nicht durchweg eingelöst werden, aber doch oft genug. Mehr als das, was die gegenwärtige Szene bietet, kann eben auch eine umtriebige Festivalleiterin nicht herbeischaffen.
Viele Themen wurden berührt, von den Problemen in Afrika über Genderfragen und Selbstbetrachtungen bis zur Werkschau der spanischen Performerin La Ribot. Bisweilen wurde auch wirklich getanzt, wie es der Festivaltitel ja verspricht. Zu viel jedoch wurde geredet, entweder, weil das Thema sich allein mit Bewegung nicht abhandeln ließ oder weil der Choreograf eben dies nicht vermochte. Das führte eher in den Bereich der Performance.
Es gab viel Nackheit auf der Bühne, was heute nicht mehr schockt, aber die Frage aufwirft, inwieweit es künstlerisch notwendig ist, Tänzer in ihrer Verletzlichkeit zu zeigen, indem man sie genital entblößt. Und es gab - wie im Alltag auf der Straße - reichlich Vollbärte, die ihre Träger so alt aussehen lassen, wie sie es nicht sind. Wer’s mag. Nicht zuletzt hatte das Festival auch seinen absoluten Tiefpunkt: die pubertäre Kunstgewerbeschau eines Frauentrios in den Sophiensaelen und »A Line_up« von ccap, ebenfalls aus Schweden. Statt auf das zu setzen, was die Interpreten sichtbar können, nämlich tanzen, verstrickt ihre Choreografin Cristina Caprioli sie in monoton geleierte Endlostiraden von 105 Minuten ermüdender Dauer. Dann noch beide Gastspiele am selben Abend: eine Zumutung.
Zu den anregendsten, ästhetisch gelungensten Beiträgen zählte Jefta van Dinthers Duo »Dark Field Analysis«. Umsessen von den Zuschauern, verharren Juan Pablo Cámara und Roger Sala Reyner lange unbewegt auf einem grünen Teppich, den ein in gleicher Größe hängendes Rechteck aus Neonleuchten matt beleuchtet. Der eine beginnt, den anderen zu fragen, erntet jedoch statt einer Antwort eine Gegenfrage, die der Erstfrager dann ausführt. So entspinnt sich ein extrem verzögerter Dialog über die frühen Lebenseindrücke, und die drehen sich um Blut - durch eine Verletzung beim Hinfallen. In dieser intimen Atmosphäre verstricken sich die nackten Darsteller unter einem Dom aus minimalem Geräusch zunehmend in einen Rausch um den roten Lebenssaft. Seit jenem Kindererlebnis erscheinen dem Erzähler alle Dinge als rot. Die Frage, ob Blut auch blau sein könne, klingt an und versetzt die Körper in eine Bewegungsrage, bei der die Texte von dröhnender Musik geschluckt werden. Unruhevoll wie das Blut durch seine Bahnen pulst die Bewegung, wird ruckhaft, quälerisch.
Dann startet der Befreiungsakt aus dem Sitz- und Fragekäfig. Der grüne Belag wird weggezerrt und gibt den Raum für animalische Wildheit frei. Im Liegen bäumen sich nur schemenhaft sichtbare Leiber, bis sich die Rückkehr zum Menschsein vollzieht. Einer steigt auf die Schultern des anderen, ragt so mit seinem Kopf durch das Lichtrechteck: In der Fläche und räumlich beginnen die Kämpfer mit der Eroberung ihres Kosmos. Wie van Dinther seinem von der Alternativmedizin inspirierten Thema gültige tänzerische Form gibt, mit dynamischen Wechseln operiert und hierfür vorzügliche Interpreten gefunden hat, das macht »Dark Field Analysis« zur reifen Performance großer Tiefgründigkeit.
Gründliche Recherche ist auch zwei weiteren Gastspielen zu attestieren. Von Kindesbeinen an praktiziert die zierlich dralle Spanierin Rocío Molina Flamenco. In »Caída del Cielo« (Himmelsuntergang) lässt sie ihrer Lust am Experiment ungebremst freien Lauf. Als griechische Göttin in Weiß und mit enormer Schleppe fängt die nächtliche Reise an, macht sie im Mondschein nackt zur Venus, der ihr Sänger einen Bademantel umhängt. Alle Verwandlungen finden auf offener Szene statt, so die zum Torero mit Bolero. Wie ein Tanzkobold trillert sie ihre Zapateados hin, wirbelt durch den Raum, beherrscht jede Minute die Szene. Und sie beweist Humor: An einen Keuschheitsgürtel pappt sie eine Tüte, aus der sie genussvoll isst. Zur tragischen Gestalt wird sie, wenn sie einer Farbkiste entsteigt und mit der Kleiderschleppe Spuren auf den Fußboden zeichnet. Am Ende ihres 90-minütigen Ritts durchs Flamencogelände explodiert sie geradezu, wird zur Punklady mit Rockbegleitung und zeigt: Der Flamenco ist noch längst nicht am Ende seiner Möglichkeiten angekommen.
Dasselbe gilt für Argentiniens Markenzeichen, den Tango. »El Baile« orientiert sich am berühmten Vorbild »Le Bal«, versetzt es aber in ein von Krisen, Krieg, Korruption gebeuteltes Land. Mit dem Schriftsteller Alan Pauls und sechs brillanten Paaren hat die Französin Mathilde Monnier einen Reigen aus Tanz und Gesang einstudiert, 90 Minuten zwischen Taumel des Vergessens, wenn jemand ermordet wird, Terror als Tanzaudition, wilder Fröhlichkeit, Wallung von Sex, Fußballattacke, die der Tanz als Sieger überlebt. Geschichte im Zeitraffer, von ästhetisch packendem Zuschnitt.
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